Ambitionierte, aber vertretbare Mindestlohnerhöhung
Anne Steuernagel und Max Krahé vom Dezernat Zukunft (Institut für Makrofinanzen) haben Anfang Juni ein lesenswertes »Policy Paper« zur deutschen Debatte über die Mindestlohnerhöhung veröffentlicht (PDF). Dazu hatte ich mich auf X/ Twitter mit einem Thread zu Wort gemeldet (mittlerweile gibt es auch einen Beitrag im Wirtschaftsdienst zur ähnlichen Kernproblematik), möchte aber an dieser Stelle die Argumente etwas besser lesbar aufbereiten.
Zunächst möchte ich lobend hervorheben, dass die Ergebnisse der Studie im Policy Paper wohltuend unaufgeregt und differenziert präsentiert werden. Zweifel an der Mindestlohnerhöhung werden nicht verschwiegen, sondern im wissenschaftlichen Konjunktiv eingeordnet. So heißt es z.B. »In der Gesamtschau betrachten wir es daher als möglich, jedoch nicht als gesichert, dass ein 16-Euro-Mindestlohn ohne signifikante negative Beschäftigungseffekte bleiben könnte.« (Steuernagel/ Krahé 2024: 6) Einfacher formuliert: Der Abbau von Arbeitsplätzen durch einen Mindestlohn von 16 Euro wird für möglich, aber nicht als sehr wahrscheinlich angenommen.
Dieser abwägende und sachliche Ton durchzieht das gesamte Papier und ist deshalb besonders hervorzuheben, weil sich das Papier damit als gute Grundlage für die ansonsten oft politisch sehr angeheizte Debatte zum Mindestlohn eignet. Das Papier geht auf verschiedene teils mit Vehemenz vorgetragene Positionen ein und argumentiert differenziert für eine schrittweise Anhebung des deutschen Mindestlohns auf 16 Euro, tut das aber wie gesagt unaufgeregt, sachlich, differenziert und informativ.
Allerdings springen auch in diesem lesenswerten Papier verschiedene kleinere, aber auch größere Punkte ins Auge, die Anlass für eine Kommentierung geben.
Neoklassischer Arbeitsmarkt, Beschäftigungseffekte und Verwaltung
Zu den Kleinigkeiten gehört zum Beispiel folgende Behauptung, die sich offensichtlich auf das neoklassische Modell des Arbeitsmarktes bezieht: »Denn in einem Arbeitsmarkt mit perfektem Wettbewerb, sagt die ökonomische Theorie voraus, würde ein Mindestlohn zu einem Beschäftigungsrückgang führen.« (Steuernagel/ Krahé 2024: 14)
Das ist so nämlich nicht ganz richtig. Denn die schädliche Wirkung des Mindestlohns im neoklassischen Arbeitsmarkt gilt nur, wenn dieser über dem Gleichgewichtslohn liegt. Unterhalb des Marktlohns oder wenn der Mindestlohn dem Marktlohn entspricht, passiert: nichts. Genau genommen stellt sich in dem Fall die Frage, weshalb es überhaupt einen Mindestlohn braucht, wenn der Marktlohn bereits mindestens auf dessen Höhe liegt. Der wesentliche Sinn eines Mindestlohns besteht doch darin, einen Mindestpreis für den Faktor (Lohn-) Arbeit festzulegen, unter den der Marktlohn nicht sinken soll.
Im neoklassischen Arbeitsmarktmodell ist der Mindestlohn deshalb entweder schädlich, wenn er über dem Marktlohn liegt, oder überflüssig, wenn er auf oder unter dem Marktlohn läge.
Ein anderer Punkt betrifft den Umstand, dass unterschwellig negative Beschäftigungseffekte auch als negativ angesehen werden und der Fokus genau darauf liegt, ob ein Mindestlohn diese negativ empfundenen Beschäftigungswirkung hat. Dabei scheint aber unterzugehen, dass negative Beschäftigungseffekte durchaus gewünscht und beabsichtigt sein können.
Politisch handelt es sich in dem Falle um Jobs, die nicht einmal die Existenzsicherung gewährleisten. Wirtschaftsethisch ist damit ein wichtiger Aspekt eines Gesellschaftsvertrags, der die Teilnahme an der Arbeitsteilung & Marktwirtschaft betrifft, ausgehöhlt. Und aus ökonomischer Sicht würde unter realen (nicht idealen Modell-) Bedingungen Misswirtschaft drohen und gefördert werden, wenn es keinen Mindestlohn gibt. Dieser Punkt mag im ersten Moment vielleicht etwas verwundern, aber bezieht sich darauf, dass auch die Arbeitskraft »produziert«, d.h. reproduziert, werden muss, um im nächsten Produktionszyklus wieder zur Verfügung zu stehen. Andernfalls droht deshalb Misswirtschaft, weil diese Reproduktionskosten nicht gedeckt werden, der Input »Arbeit« also nicht (wieder) erwirtschaftet wird. Der Mindestlohn setzt dazu ein Kriterium bzw. einen durchaus auch als »marktwirtschaftlich« anzusehenden Mindeststandard, um genau das zu verhindern.
Ein letzter kleiner Punkt: Es ist gut und wichtig, wenn im Papier zu den fiskalischen Effekten der Mindestlohn-Erhöhung auf die Effekte für die Verwaltung u.Ä. eingegangen wird. Aber mensch hätte hier auch kurz erörtern können, was das speziell für die Universitäten bedeuten kann.
Formal: Beurteilungen
Die eben genannten Punkte sind Petitessen. Schwerer wiegt, dass solche aus ›der‹ Ökonomik stammenden Studien ein Werturteil über den Mindestlohn nahelegen und dieses typischerweise oft auch noch von den Beschäftigungseffekten abhängig sein lassen. Das wird eingangs deutlich, aber im weiteren Verlauf nicht durchgängig – konsequent – transparent gehalten.
Dafür folgende Passage als Beispiel: »Erstens erscheint eine Anhebung des Mindestlohns auf 16 Euro ambitioniert, aber noch am oberen Ende dessen, was man vernünftigerweise in Schritten anstreben könnte.« (Steuernagel/ Krahé 2024: 5)
Was heißt dort aber »vernünftigerweise«? Woran bemisst sich das? Eindeutiger wäre es gewesen, zu schreiben: »Erstens erscheint eine Anhebung des Mindestlohns auf 16 Euro ambitioniert, aber noch am oberen Ende dessen, was man (rein) mit Blick auf befürchtete negative Beschäftigungseffekte vernünftigerweise in Schritten anstreben könnte.« Diese Präzisierung wirkt vielleicht pedantisch. Aber mit Blick auf den normativen Charakter der Aussagen/ Empfehlungen ist es notwendig, den Maßstab der Wertung anzugeben. Sprich: Keine Bewertung ohne Maßstab! Das wäre dann eindeutig und sauber.
Die ethische Dimension des Mindestlohns
Der wesentliche Kardinalsfehler solcher Studien, vor denen auch das Policy Paper vom Dezernat Zukunft nicht gefeit ist, besteht aber darin, auszublenden, dass der Mindestlohn eine soziale Gerechtigkeitskonvention und Mindeststandard für die Qualität von Erwerbsverhältnissen ist. Dazu wäre es wichtig, zu berücksichtigen, dass der Mindestlohn, so er ernst gemeint ist, verschiedene Funktionen erfüllen muss, z.B. Existenzsicherung, Kompensation von Einschränkungen des Erwerbsverhältnisses und eine ›faire‹ Teilhabe an der gemeinsam geschaffenen realen Wertschöpfung.
Um an dieser Stelle nicht falsch verstanden zu werden: Alles, was die Autoren im Policy Paper darstellen, sind interessante Informationen über die Wirkung eines Mindestlohnes. Allerdings können diese nicht entscheidungsrelevant für die Höhe eines echten Mindestlohns sein. Die Höhe des echten Mindestlohnes bemisst sich nach anderen Maßstäben, mindestens nach der Existenzsicherungsfunktion (die wiederum dem Anspruch auf Menschenwürde dient).
Und das ist der zentrale Punkt: Ich kann argumentieren, dass eine schrittweise Erhöhung auf 16 Euro negative Beschäftigungseffekte und Effekte auf die Schwarzarbeit haben mag. Aber wenn der Mindestlohn die Existenzsicherung garantieren soll, dann kann diese Existenzsicherung nicht von diesen Effekten abhängig gemacht werden. Das soziokulturelle Existenzminimum ist doch kein flexibles Datum, dass sich einfach an die allgemeine Beschäftigungssituation anpasst. Polemisch zugespitzt: Unter einer höheren allgemeinen Erwerbslosigkeit fängt der Magen nicht später zu knurren an als bei Vollbeschäftigung!
Das ist deshalb ein wichtiger Punkt, weil eine Diskussion, die zum Beispiel die Existenzsicherungsfunktion des Mindestlohns ignoriert, in eine Richtung läuft, die die eigentliche normative Substanz und damit die ethische und politische Legitimität eines Mindestlohns aushöhlt, ihn sogar unterminiert.
Dieses Problem zeigt sich auch im Fazit des Policy Papers: Dort wird die wirtschaftsliberale Argumentation der relativen/ prozentualen Erhöhung des Mindestlohns bedient, die völlig losgelöst vom eigentlichen Sinn eines echten Mindestlohns – nämlich die Existenz sichern zu können – ist. Deshalb lässt sich auch nicht einfach (im Superlativ) behaupten, »eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns, mit dem Ziel, die Mindestlohnhöhe in Relation zum Medianlohn zu steigern« wäre »die an gemessenste Vorgehensweise« (Steuernagel/ Krahé 2024: 22). Angemessen gemessen woran?
Ich komme hier auf den oben genannten Punkt zurück: Gemessen an den Beschäftigungseffekten, ja, vielleicht. Gemessen daran, dass der Mindestlohn mindestens die Existenz sichern soll, nur dann, wenn die Schritte zur Erhöhung eben das garantieren: die Existenzsicherung!
Schlussbemerkung
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass die hier ausgebreiteten Kritikpunkte nicht bedeuten, dass die Ergebnisse der Studie nichts wert seien. Ganz im Gegenteil. Das Policy Paper liefert wichtige, für die Politik relevante Informationen. Normativ, so meine Kritik, wirft sie aber ernste Fragen und Probleme auf.
Eigene Literatur zur Vertiefung
2024 »Mindestlohnanhebung: Und ewig grüßt der Mindestlohn« (Wirtschaftsdienst)
2022 »12 Euro Mindestlohn schützen nicht vor Armut« (Jacobin)
2020 »Mindestens existieren« (Freitag) [€]
2017 »Menschengerechtes Wirtschaften?« (Monographie). »Selbsterhaltung« [Metropolis: €]
2016 »Selbsterhaltung im ›Markt‹« [Metropolis, €]