Ideologie & Autoritätshörigkeit in der Ökonomik?
Der Vorwurf, dass Ökonomik teils ideologisch sei, taucht in verschiedenen Kontexten immer wieder auf: Er spielt in der Diskussion um den Zustand der Ökonomik eine Rolle (Pluralismus-Debatte), aber auch in Fachdebatten selbst werfen sich Ökonominnen und Ökonomen gerne »politische Nähe«, »Bauchgefühl« oder »Lobbyismus« vor. Wie anfällig sind also Ökonominnen und Ökonomen für Ideologie? Unter anderem dieser Frage sind Mohsen Javdani & Ha-Joon Chang in einer Studie nachgegangen, die im März 2023 im Cambridge Journal of Economics publiziert wurde: »Who said or what said? Estimating ideological bias in views among economists«.
Im Grunde handelt es sich dabei um Einstellungsforschung: Die Autoren analysierten eine Befragung von 2.425 Ökonominnen und Ökonomen aus 19 verschiedenen Ländern, die zwischen Oktober 2017 bis April 2018 durchgeführt wurde.1
Was ist nun das Ergebnis? Kurz zusammengefasst konnten die Autoren unter Ökonominnen und Ökonomen eine starke ideologische Voreingenommenheit sowie eine starke Voreingenommenheit mit Blick auf Autoritäten feststellen. Anders formuliert: Wie Ökonominnen und Ökonomen bestimmten Aussagen zustimmten, das war geprägt durch ideologische Aspekte und durch die Autoritäten, denen diese Aussagen zugeschrieben waren. Ein wesentliches weiteres Ergebnis: Diese ideologische und autoritäre Voreingenommenheit widersprach auch dem ›objektiven‹, ›unvoreingenommenen‹ bzw. ›wertneutralen‹ Bild, das diese Ökonominnen und Ökonomen von sich hatten. Im Wortlaut:
»We find clear evidence that changing source attributions from mainstream to less-/non-mainstream, or removing source attributions, significantly lowers economists’ level of agreement with statements. This contradicts the image economists have/report of themselves, with 82% of participants reporting that in evaluating a statement one should only pay attention to its content. These findings […] point to the existence of strong ideological and authority bias among economists.« (Javdani & Chang 2023: 25)
Dieses Selbstverständnis, ›neutral‹, ›unvoreingenommen‹ usw. zu arbeiten, ist ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Sozialisation: Zum Beispiel wird in Lehrbüchern wie von Paul Krugman und Robin Wells (2017) in eine normative und eine positive Ökonomik unterschieden, dabei der positiven Ökonomik faktisch eine ›Wertneutralität‹ unterstellt und festhalten, dass die moderne Ökonomik heute positive Ökonomik sei. Überspitzt formuliert ist damit auch nur diese positive Ökonomik echte wissenschaftliche Ökonomik, welche wegen ihrer Faktenbezogenheit, ihrem empirischen Charakter selbstredend ›wertneutral‹ sei. Hinzu kommt, dass Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Wirtschaftsethik und ökonomische Ideengeschichte heute kaum noch eine Rolle in der ökonomischen Ausbildung spielen. Auch in der Forschung ist damit eher kein Blumentopf zu gewinnen. Wer vor diesem Hintergrund die Ökonomik herangeführt wird, auf den oder die werden die Ergebnisse von Javdani & Chang (2023) sicher wie eine Provokation wirken.
Daraus erklärt sich wohl auch, dass diese Thematik, die bereits vor der Untersuchung von Javdani und Chang Gegenstand anderer Fachaufsätze und anderer Studien war, seitens der modernen Ökonomik nicht thematisiert wurde.
»Unfortunately, despite its critical implications, this issue has been largely ignored/suppressed within mainstream economics for the last few decades. Moreover, surprisingly for a discipline that emphasises the importance of hard evidence, there is no empirical evidence for the claim of objectivity and ideological neutrality.« (Javdani & Chang 2023: 2)
Neben den Ergebnissen ist der Artikel von Javdani und Chang aber auch deshalb lesenswert, weil dort im Abschnitt 2 ein Überblick zu Studien gegeben wird, die sich mit dem Problemfeld »Ideologie und Ökonomik« befassen.
Kritisch empfand ich an der Studie jedoch die Feststellung einer geringen ideologischen und autoritären Voreingenommenheit in den Feldern der ökonomischen Ideengeschichte, heterodoxen Ökonomik usw. Konkret schreiben die Autoren:
»Estimates […] suggest that economists whose main area of research is history of thought, methodology, heterodox approaches; cultural economics, economic sociology, economic anthropology; or business administration, marketing, accounting exhibit the smallest ideological and authority bias.[FN] We find, however, that economists whose main area of research is macroeconomics, public economics, international economics and financial economics are among those with the largest ideological bias, ran ging from 33% to 26% of a standard deviation.« (Javdani & Chang 2023: 25)
Was mich irritiert, das sind zwei Dinge. Erstens ist das Feld der heterodoxen Ökonomik zwar sehr heterogen, aber wenn zum Beispiel auf die Szene in Deutschland geschaut wird, dann ist mein Eindruck, dass insbesondere Keynesianismus und Postkeynesianismus stark vertreten sind – wenn mensch hier nicht sogar von einer Dominanz im Feld der Pluralen Ökonomik reden kann. Genau diese Strömungen sind nun aber tendenziell eher makroökonomisch geprägt. Gerade der makroökonomischen Prägung wird nun aber in der Studie eine starke ideologische Voreingenommenheit attestiert. Wie passt das zusammen, dass heterodoxe Ökonomik tendenziell weniger ideologisch voreingenommen ist, aber zum Beispiel Postkeynesianismus stark makroökonomische Züge trägt und die Makroökonomik wiederum stark zur ideologischen Voreingenommenheit neigt?
Zweitens bin ich auch deshalb irritiert, weil meine Erfahrung gerade mit der ökonomischen Ideengeschichte und in der heterodoxen Ökonomik doch etwas anderes zeigt als die geringe ideologische Voreingenommenheit, die Javdani und Chang feststellten. Ich stelle gewisse Vorbehalte gegenüber Marx und der historischen Schule fest. Es existieren ideengeschichtliche Netzwerke mit starkem Interesse am Ordoliberalismus und an Hayek, aus denen heraus sofort Einzelne ausrücken, sobald einem Säulenheiliger Gefahr durch Kritik droht. Und zudem fallen teils deutliche Verehrungsbekundungen gegenüber historischen Autoritäten oder auch verbale Verbeugungen vor Fachleuten der ökonomischen Ideengeschichte auf. Und wie sieht es denn im Feld der heterodoxen Ökonomik mit der Voreingenommenheit gegenüber feministischen Perspektiven, sozialwissenschaftlichen Ansätzen usw. aus?
Es gibt noch einen anderen Punkt, den Gabriel Felbermayr kurz auf Twitter ansprach: »Wäre interessant zu wissen, ob der ideologische ›Bias‹ in Theoriearbeiten stärker auftritt als zB bei RCTs oder anderen Formen der ökonometrischen Kausalanalyse...«
Die Studie von Mohsen Javdani, Ha-Joon Chang bezog sich nämlich nur auf die Einstellungen der Forschenden. In der Tat wäre es im Gegensatz dazu interessant, sich einmal mit der wissenschaftlichen Substanz selbst zu befassen, sich also die konkreten wissenschaftlichen Arbeiten anzuschauen. Ich vermute, dass sich die Unterschiede zwischen theoretischen Arbeiten und empirischen Arbeiten dann nicht unbedingt in der Stärke der Voreingenommenheit zeigen, sich beides vielleicht auch nicht vergleichen lässt, sondern eher in der Art und Weise, wie diese Voreingenommenheit zu Tage tritt. Denn insbesondere bei empirischen Arbeiten dürften die wesentlichen normativen Momente in der normativen »Tiefenstruktur« liegen, d.h. auf der Ebene der (wissenschaftsethischen) Entscheidungen, die bewusst getroffen werden (erkenntnistheoretische Konzepte, Modelle, Variablen usw.) oder unbewusst gesetzt sind (zum Beispiel androzentrische Momente oder Konsummuster). Zwar ließen sich besonders kontroverse Themen wie der »Mindestlohn« gut identifizieren, abgrenzen und diskutieren. Aber selbst dann bedeutet das noch einen erheblichen Forschungsaufwand. Es ginge hier im wahrsten Sinne des Wortes um Kernerarbeit. Und diese wäre auch notwendig, weil sich auf diese Weise auch ausleuchten ließe, wo und wie die von Javdani und Chang beobachtete Voreingenommenheit in die ökonomische Forschung gerät.
Allerdings ist ein solches Vorhaben mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert: Denn es handelt sich dann um eine Forschungsarbeit, die sich deutlich vom Tagesgeschäft einer modernen Ökonomik unterscheidet, bei der Expertise auch im Bereich Ideengeschichte und Normativität notwendig wäre; es ginge um eine Forschungsarbeit, mit der in der modernen Ökonomik kaum ein Blumentopf zu gewinnen wäre und der viele Ökonominnen und Ökonomen wohl auch skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden, was wiederum die Aussicht auf eine erfolgreiche Forschungsförderung schmälert.2
Kurz: Um die Aussichten auf eine Analyse der Momente von Ideologie und Autoritätshörigkeit in den konkreten wissenschaftlichen Arbeiten scheint es eher schlecht bestellt. Und bis das anders ist, muss mensch sich mit Studien wie denen von Javdani und Chang – und denen, die beide in ihrem Fachartikel erwähnten – begnügen. Allerdings sind damit bereits Indizien geliefert für das schwierige Verhältnis zwischen Ökonomik und Ideologie, die sich nicht mehr so einfach vom Tisch wischen lassen.
Update: 09.4.2023, 20:40 Uhr. Beseitigung kleinerer Flüchtigkeitsfehler, kleine Ergänzungen.
Nähere Details zu Daten und Forschungsdesign finden sich im erwähnten Fachartikel und dem dazu angebotenen, umfangreichen Appendix (Word.Doc). Beides ist frei zugänglich.
Weil es eben solche modernen Ökonominnen und Ökonomen sind, die in der Tendenz Gutachten für Forschungsanträge verfassen.