Ökonomische Ideengeschichte! Welche ökonomische Ideengeschichte?
Auf X (ehemals Twitter) erfahren immer mal wieder Tweets eine hohe Aufmerksamkeit, die inhaltlich Themen der ökonomischen Ideengeschichte betreffen: Es geht dann um Aussagen etwa zu »Kapitalismus«, »Marxismus«, »Markt« oder »Liberalismus«, vereinzelt konkret zu Namen wie Hayek oder Erhard. Die Debatten dazu entfalten dann nicht selten eine merkwürdige Entwicklung, die teils in politische Agitation abdriftet. Echte Fachexpertise gibt es nicht oder ist auch schwer zu erkennen. Das kommt auch nicht von ungefähr.
Ideengeschichte in der ökonomischen Ausbildung
Dazu ist zunächst der simple Umstand zu berücksichtigen, dass wer heute Ökonomik studiert, gute Chancen darauf hat, ohne etwas über die Geschichte des eigenen Fachs gehört zu haben, durch das Studium zu kommen. Die Studie für die Böckler-Stiftung von Fauser/ Kaskel (2016) zur ökonomischen Hochschul-Ausbildung in Deutschland (Bachelor) bemisst den Anteil »reflexiver« Inhalte auf 1,36 Prozent. Diesen Anteil reflexiver Inhalte teilt sich die ökonomische Ideengeschichte mit »ethics«, »Philosophy of Science« etc.
Dort, wo ökonomische Ideengeschichte noch gelehrt wird, ist sie einer Erfahrung nach in ein Semester gepackt. Mehr Zeit wird dafür in der Regel nicht eingeräumt. Bei einer Geschichte von der Antike bis heute bleiben damit zwangsläufig verschiedene »Stationen« ökonomischen Denkens auf der Strecke. Zum Beispiel war in meinem Studium etwa bei den Frühsozialisten Schluss. Und damit ist nur die Lektüre der Sekundär-Literatur, die die Geschichte des ökonomischen Denkens in einen Überblick bringt, in Rechnung gestellt. Stattdessen, wie es das Studium der ökonomischen Ideengeschichte eigentlich verlangen würde, Texte im Original zu lesen und zu diskutieren, das ist heute in der modernen Ökonomik – und der dazugehörigen Ausbildung – gar nicht vorgesehen.
Nebenbei bemerkt wäre es auch möglich, ideengeschichtliche Inhalte in die reguläre Lehre – also Veranstaltungen zur Makroökonomik, internationalen Wirtschaft oder Fiskalpolitik, aber sogar auch zur Statistik – zu integrieren. Das wäre möglich (siehe z. B. das Lehrbuch von Paraskewopoulos von 2003). Aber in der tatsächlichen Umsetzung dürfte das auch eher einen Seltenheitswert haben. Letztlich dürfen Studierende ‚der‘ Ökonomik allenfalls von etwas Glück sprechen, wenn sich nebenbei Namen wie Keynes oder Adam Smith aufschnappen lassen. Das war es in der Regel auch schon mit ökonomischer Ideengeschichte.
Stand der ökonomischen Ideengeschichte in der Ökonomik?
Schon deshalb wundert es nicht, wie blank Top-Ökonom:innen dastehen, wenn sie (wie bei Tilo Jung) nach der Geschichte des eigenen Fachs gefragt werden. Natürlich hat das auch eine polit-ideologische Schlagseite (siehe das Beispiel Krelle, unten). Aber davon abgesehen grenzt es bereits an Übertreibung, von verschwindend geringen Lehrstühlen für ökonomische Ideengeschichte zu sprechen. Kurz, es gibt kaum Lehrstühle. Mir fällt im Moment nur ein Lehrstuhl für die Geschichte der VWL in Hamburg ein. Ein Blick auf die Liste der Vorsitzenden vom Ausschuss „Geschichte der Wirtschaftswissenschaft“ im Verein für Socialpolitik – der traditionellen Berufsvereinigung der Volkswirt:innen im deutschsprachigen Bereich – offenbart nur in wenige Fälle, in denen die Fachbezeichnung/ Denomination der Lehrstühle direkt auf Ideengeschichte schließen lässt (etwa im Falle von Heinz Rieter). Die jüngeren Beispiele – Rainer Klump, Peter Spahn – zeigen jedenfalls keine Professoren mit der Fachbezeichnung des Lehrstuhls für die Ideengeschichte (stattdessen Economic Policy and Quantitative Methods, Geld und Währung etc.).
Böse ließe sich zuspitzen, dass es sich bei der Forschung zur ökonomischen Ideengeschichte im Grunde um ein Hobby von vor allem überwiegend männlichen, alten – meist bereits emeritierten – , weißen Professoren handelt. Das heißt nicht, dass nicht auch zur ökonomischen Ideengeschichte geforscht wird. Klar, es gibt Journals und Monographien. Aber wer zur ökonomischen Ideengeschichte forscht, tut das in der Regel auf dem Altenteil/ im Ruhestand oder nebenher, also neben dem eigentlichen Fachthema (bzw. Denomination des Lehrstuhls, siehe eben) – und unterhalb der Professur vor allem auf prekärem, im Grunde völlig verlassenen Posten. Das ist keine Untertreibung und es ist eigentlich ein Wunder, dass sich unterhalb der Professur zu ideengeschichtlichen Themen noch geforscht und publiziert wird. Denn ideengeschichtliche Arbeiten sind nichts, was irgendwie karriereförderlich im Fach Ökonomik ist.
Das gilt schon aus methodologischen Gründen, weil mensch hier eben vor allem Texte lesen, interpretieren und einordnen muss. In einer Disziplin wie der modernen Ökonomik, in der ihre Vertreterinnen und Vertreter überwiegend mathematisch und statistisch ausgerichtet sind, mit modernen empirischen Methoden arbeiten und meinen, ein etwaiges Denkschulen-Denken bzw. die Prägung dadurch hinter sich gelassen zu haben, ist der ideengeschichtlichen Forschungsarbeit eher entwöhnt. Das geht soweit, dass jene, die sich für ökonomische Ideengeschichte interessieren, mit diversern Vorbehalte aus der eigenen Zunft konfrontiert sind: das wäre doch eher bequeme Lektürearbeit, eine angenehme Liebhaberei von Leuten, die sich nicht auf den beschwerlichen Weg empirischer Modellarbeit begeben wollen. Wer ernsthaft (!) ideengeschichtlich forscht, wird über solcherlei Vorbehalt nur müde schmunzeln können, wird doch die Arbeit, die dahinter steckt, erheblich unterschätzt. Aber Forschende zur ökonomischen Ideengeschichte schmunzeln dann in der Regel alleine für sich.
Auch inhaltlich ist es schwierig, mit ideengeschichtlicher Forschung in der akademischen Landschaft einen Fuß auf den Boden halbwegs gesicherter Arbeitsverhältnisse zu bekommen. Denn Ideengeschichtliche Themen sind teils spezifische Themen, die sich nicht immer international publizieren lassen. Besonders prekär wird es, wenn sprachliche Aspekte hinzukommen, wenn es etwa um deutsche, französische etc. Ökonom:innen oder Entwicklungen geht.
Ein Austausch über bestimmte ideengeschichtliche Aspekte ist vor diesem Hintergrund nur eingeschränkt möglich. Das sind ganz und gar keine guten Bedingungen für die ernsthafte Beschäftigung mit ökonomischer Ideengeschichte. Vieles muss auf der Strecke bleiben & bleibt es auch. Darunter leidet die Qualität ideengeschichtlicher Forschung und Literatur. Die ökonomische Ideengeschichte scheint geradezu in eine Pfadabhängigkeit nach unten gedrängt zu sein.
Praktische Konsequenzen
Exemplarisch für den Zustand der ökonomischen Ideengeschichte ist das Zeitgespräch im Wirtschaftsdienst von 2018 zu »Karl Marx – heute noch aktuell?«: Zwar ist dort mit Schefold eine letzte Koryphäe der deutschen Forschung zur ökonomischen Ideengeschichte vertreten. Schefold wird Marx ganz sicher kennen und das sicher besser als andere Ökonom:innen. Es ist sicher auch gut, ihn dabei gehabt zu haben. Aber es tut der respektablen Leistung Schefolds sicher auch keinen Abbruch, darauf hinzuweisen, dass er ist eigentlich für andere ideengeschichtlichen Schwerpunkte bekannt ist (Sraffa, Wirtschaftsstile). Letztlich war echte Fachexpertise zu Marx – also Leute, die schwerpunktmäßig zu Marx, Marxismus und von Marx inspirierter Theorie forschen, das auch ideengeschichtlich tun usw. – in diesem Zeitgespräch eher rar gesät. Im Gegenteil.
Mit Karl Homann und Ingo Pies gab es dort gleich zwei Verteter der Ethik mit ökonomischer Methode, die eher zur Verteidigung kapitalistischen (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftens in Anschlag gebracht wird, und nicht wirklich der Marx-Expertise verdächtig sind. Auf die Idee muss mensch erst einmal kommen: zu einem Zeitgespräch über Karl Marx, der sich kritisch mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinandersetzte, ausgerechnet Autor:innen zu aquirieren, die bei jeglicher Kritik an einer marktzentrieren Ökonomik und marktwirtschaftlichen - kapitalistischen - Verhältnissen das Zerrbild sozialistisch geprägter Diktaturen usw. in Anschlag bringen.
Ich mag mich täuschen, aber als sich 2023 Adam Smiths Geburtstag zum 300. Male jährte, bliebt es im deutschsprachigen Bereich auch eher ruhig. Kurz, das Interesse an ökonomischer Ideengeschichte ist in ›der‹ Ökonomik kaum noch vorhanden. Die Expertise ebenfalls. Wer diese sucht, wird in den prekären Randbereichen der heterodoxen/ pluralen Ökonomik schauen müssen (z.B. Sophie-Marie Aß zu Hayek) oder außerhalb der Disziplin, in die Philosophie oder Soziologie.
Ideologisches Umfeld
An dieser Stelle sei auf eines der wohl dunkelsten und widerlichsten Momente der deutschen VWL hingewiesen: Der Fall Krelle. Der Untertitel des entsprechenden Beitrag von Dieter Klein im ND von 2021 sagt eigentlich schon alles dazu: „Wie eine einstige SS-Größe an der Humboldt-Universität DDR-Wissenschaftler abservierte.“ Und weiter dazu im Text:
»Das Resultat der Tätigkeit Professor Wilhelm Krelles als Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission zur Erneuerung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität und als ihr Gründungsdekan - die Entlassung von 90 Prozent aller dort in der DDR wissenschaftlich Tätigen nämlich - korrespondiert durchaus mit dem generellen Umgang der Machteliten der alten Bundesrepublik mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR. Von den insgesamt 782 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der Humboldt-Universität verloren 644, das heißt 82,6 Prozent, ihre Position. Darunter nicht wenige mit hohem internationalem Ansehen.« (Klein 25.01.2021)
Das hat zwar nicht unmittelbar mit der Forschung zur ökonomischen Ideengeschichte zu tun. Aber der Fall Krelle lässt die Vermutung darüber an Kontur gewinnen, wie nachhaltig das Wende-Engagement der westdeutsch sozialisierter Professor:innen auch das Forschungsfeld zur ökonomischen Ideengeschichte verändert haben mag. Wenn eben davon die Rede war, dass ideengeschichtliche Expertisen, vor allem zu bestimmten Themen (marktkritisch, kritisch gegenüber Hayek, Ludwig Erhard usw.) in den Randbereichen der heterodoxen/ pluralen Ökonomik oder außerhalb ›der‹ Ökonomik zu suchen sind, dann hat das sicherlich auch mit den Transformationsprozessen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu tun. Die Ökonomisierung der Hochschulen, das dort etablierte New Public Government, der damit einhergehende Drittmittelfetisch, das Prinzip Wettbewerb auch in der Forschung und Lehre, Journal- und Ranking-Fixierung, »Exzellenz« usw. mögen ein übriges dazu getan haben, um den ohnehin prekären Zustand ›der‹ ökonomischen Ideengeschichte zu verschärfen.
Ideengeschichte & aktuelle Debatten
Der Zustand, in dem sich die ökonomische Ideengeschichte in ›der‹ Ökonomik befindet, mag als ein akademisches Spezialproblem – als Problem im Elfenbeinturm – gelten, fernab der gesellschaftspolitischen Debatten. Das mag teils so wirken. Aber wie eingangs angedeutet, werden auch in der öffentlichen Debatte immer wieder Themen berührt, der eine ideengeschichtliche Fundierung gut täte: Das war prominent zum Beispiel der Fall, als sich 2023 der Geburtstag von Adam Smith zum 300. Male jährte und diese Jubiläum vereinzelt zum Anlass genommen wurde, Smith als »Neoliberalen« zu verklären und zu fordern, ›den‹ Neoliberalismus zu retten. Oder wie oft ist in der Debatte um die Klimapolitik von »Ökodiktatur«, »Dirigismus« oder »Planwirtschaft« die Rede, damit auf spezifische ideengeschichtliche Momente anspielt wird, bei denen es aber unausgesprochen lediglich beim oberflächlichen Vorbehalt gegen etwa von Keynes oder Marx inspirierten Theorien bleibt?
Im Kontext der Aktivitäten von Elon Musk und Javier Milei, aber auch Donald Trump, wird aktuell das Verhältnis zwischen »Liberalismus« und »Faschismus« bzw. Autoritarismus diskutiert. Im Kern stehen dabei vor allem die als »Liberalismus« geframten marktfundamentalistischen Momente in der Kritik. Das wäre auch ein Feld, auf dem ›die‹ Ökonomik mit der geballter Fachexpertise einer Spezialisierung »ökonomische Ideengeschichte« in Erscheinung treten könnte. Mit »könnte« ist hier bewusst ein Konjunktiv gesetzt: Denn tatsächlich lernt mensch dazu viel mehr von Fachleuten anderer Disziplinen, etwa von Ishay Landa (Der Lehrling und sein Meister). Seitens ›der‹ ökonomischen Ideengeschichte ist dagegen in der Breite nicht viel zu erwarten. Das Personal fehlt. Ideologisch ist ›die‹ Ökonomik so sehr »wirtschaftsliberal« eingefärbt und marktzentriert, dass die intellektuellen Kapazitäten für eine kritische Auseinandersetzung dazu auch eingeschränkt scheinen.
Mit folgenden halbgaren Aussagen zu Marxismus und Kapitalismus bot ein deutscher „Comedian“ einen besonders krassen Fall für eine wirklich schräge Debatte:
»Im Gegensatz zum Marxismus ist der Kapitalismus kein theoretisches Gedankenkonstrukt, das man der Wirklichkeit überstülpt, sondern er ist – ähnlich wie die Evolution – ein spontanes, aus sich selbst heraus entwickelndes Ordnungsprinzip. Wenn etwas funktioniert, wächst und gedeiht es, wenn nicht, geht es wieder ein. Es ist paradox, dass viele Linke einerseits Charles Darwin bewundern und die Idee eines intelligenten Designers in der Evolution für Unsinn halten (was es natürlich ist), andererseits halten sie Adam Smith, der in der Ökonomie das gleiche evolutionäre Prinzip erkannt hat, für einen Wirrkopf. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Friedrich von Hayek sagte einmal: ›Ökonomie besteht darin, dem Menschen vor Augen zu führen, wie wenig er wirklich über das weiß, was er planen zu können glaubt.‹« (Vince Ebert, 10.01.2025, 9:03 Uhr, X)
Solche Aussagen treffen auf die eben beschriebene prekäre Situation der ökonomischen Ideengeschichte in ›der‹ Ökonomik. Es gibt wenig Fachexpertise zur ökonomischen Ideengeschichte und somit spielt diese prekäre Situation der Ideengeschichte den ideologischen (hier moralisch-negativ gemeint) Agitator:innen in die Hände. Das gilt insbesondere mit Blick auf jene, die selbst aus ‚der‘ Ökonomik kommen. Für Außenstehende – aus Disziplinen abseits ›der‹ Ökonomik, für Journalist:innen usw. – ist dann nicht unbedingt ersichtlich, ob es sich um politische Agitation oder Fachexpertise handelt. Wer weiß schon, dass sich Forschende mit Affinität zu Ordoliberalismus, Marktfundamentalismus, Hayek und Co. im Netzwerk »NOUS« organisiert haben, die Expertise zur ökonomischen Ideengeschichte dann also voraussichtlich eine ganz bestimmte Färbung aufweist? »NOUS« wird von Lobbypedia als ordoliberales Netzwerk geführt, zu dessen Partnern die Aktion Soziale Marktwirtschaft zählen, aber auch das Atlas Netzwerk, das als Verbindungsmitglied zwischen verschiedenen libertären Organisationen agiert (laut Wikipedia).
Kurz: Für Außenstehende wird es dann wohl seine Richtigkeit haben, wenn sich Ökonom:innen zu Theorien oder mit einem ideengeschichtlichen Anstrich zu bestimmten Sachverhalten äußern; oder wenn sie sich dazu auf andere Ökonom:innen berufen, dann wirkt es wohl unverdächtig, schließlich geht es um Expertise aus dem Fach selbst. Mehr noch, ideengeschichtliche Exkurse oder Anleihen sorgen für einen besonders akademischen und seriösen Anstrich, vermitteln historische Kontinuität und Beständigkeit, was dann von außerhalb aber wenig hinterfragt wird. Viele außerhalb der Disziplin Ökonomik werden vermutlich auch nicht um den prekären Zustand der Ideengeschichte in der VWL wissen. Böse könnte nun dazu als Fazit angeregt werden, bei Fragen, die die ökonomische Ideengeschichte betreffen, als Korrektiv doch noch Forschende aus anderen Disziplinen zu konsultieren. Sicher ist sicher. Ganz falsch wäre es jedenfalls nicht. Aber dazu wären auch bestimmte habituelle Hürden und Mythen zu überwinden.