»Plurale Ökonomik« & die (aktuelle) Debatte um die prekäre Situation von Forschenden an Hochschulen
Unter den Hashtags #IchbinHanna und #IchbinReyhan sowie #WissZeitVG werden nun schon längere Zeit auf Twitter die prekären Verhältnisse der überwiegend befristet – oft in Teilzeit – angestellten Forschenden und Lehrenden unterhalb der Professuren transparent gemacht. Ausgehend von Twitter wurde die Empörung über die entsprechenden Verhältnisse dann auch in eine breitere Öffentlichkeit getragen. Es gab verschiedene Beiträge wie zum Beispiel »Zeitverträge verhindern kritische Forschung« (01.04.2022) im Jacobin-Magazin. Wer ein Gefühl für die Problemlage bekommen möchte, kann einen Blick auf folgende Abbildung aus dem »Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021« (PDF) werfen: Unter dem hauptberuflichen wissenschaftlichen und künstlerischen Personal unter 45 Jahren und ohne Professur sind 92 Prozent auf Zeit – also befristet – angestellt.
Bildquelle: Abb. 3 aus dem »Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021« (PDF), S. 11.
Etwa 92 Prozent dieser befristetet angestellten Menschen sorgen dafür, dass Forschung und Lehre am Laufen gehalten werden. Es gibt diese Befristungen, damit also auch zu wenig unbefristete Stellen im Hochschulsystem und obendrein ist dank Wissenschaftszeitvertragsgesetz auch mit dem befristeten Dasein nach etwa 12 Jahren Schluss. Wer es bis dahin nicht in eine Professur – oder eine der ganz seltenen unbefristeten Stellen – geschafft hat, ist praktisch »draußen«. Die Gegenseite argumentiert dann häufig damit, dass die Befristungen notwendig seien, der dadurch entfachte Wettbewerb notwendig sei für »Innovation« und Exzellenz der Forschung. Doch das und viele andere Gegenargumente zur Kritik an den Zuständen der deutschen Hochschulen sind Mythen und Scheinwahrheiten. Das lässt sich zum Beispiel beim Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft oder bereits in »15 populäre Irrtümer zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz« der GEW (2017| PDF) nachlesen.
Das alles hat in Deutschland eine große Debatte angestoßen, die sich 2023 noch einmal intensivierte, nachdem die ersten Überlegungen der Regierung zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) bekannt wurden und die für große Empörung sorgten. Das alles sei an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt, es lässt sich an anderer Stelle nachlesen.1 Stattdessen soll es nachfolgend darum gehen, was #IchbinHanna, #IchbinReyhan sowie #WissZeitVG für die »Plurale Ökonomik« bedeuten können: Warum sollten sich Akteure der Pluralen Ökonomik – vor allem auch das Netzwerk Plurale Ökonomik oder Economists 4 Future – für die prekäre Situation des Großteils der Forschenden usw. interessieren? Wirft die Erfahrung der Pluralen Ökonomik vielleicht noch einen ganz spezifischen Blick auf diese Problematik?
Ich bin Hanna & Plurale Ökonomik
Ein erster Grund liegt sprichwörtlich auf der Hand: Es gibt viel zu wenig unbefristete Stellen für Plurale Ökonomik. Untersuchungen wie die von Arne Heise, Henrike Sander und mir (2017) zeigen, dass die Berufungen von heterodoxen Ökonominnen und Ökonomen seit den 1970er Jahren – also einer Zeit, in der zum Beispiel Reformuniversitäten gegründet wurden – abgenommen haben.
Bildquelle: Abb. 4.2 aus Heise/ Sander/ Thieme (2017): Das Ende der Heterodoxie?, S. 93.
Zwar gibt es mittlerweile auch dezidiert Lehrstühle für Plurale Ökonomik und es wurden auch weiter heterodoxe Ökonominnen und Ökonomen berufen (z. B. an der Universität Duisburg-Essen, der TU Chemnitz oder an der Karlshochschule). Es gibt Junior-Professuren für Plurale Ökonomik (der Europa-Universität Flensburg und Universität Siegen) und mit der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (vormals: Cusanus-Hochschule) auch eine Hochschule mit plural-ökonomischer Ausrichtung. Aber dem gegenüber steht das berufene Personal, das in den Ruhestand gegangen ist oder in absehbarer Zeit in den Ruhestand geht. Außerdem konnten wir – Arne Heise, Henrike Sander und ich (2017) – zeigen, dass es zwar in den 1970er Jahren eine Öffnung der Hochschulen gab, die auch zu einer gewissen »Pluralisierung« der Ökonomik beitrug. Allerdings konzentrierten sich die damit einhergehenden Berufungen im Wesentlichen auf zwei Hochschulstandorte (Universität Bremen und die HWP in Hamburg). Von der damaligen »Pluralität« ist heute wenig übriggeblieben. Zum Beispiel ging die HWP in Hamburg in die Universität Hamburg auf. Und in der Summe wird geschätzt, dass trotz der Öffnung in den 1970er Jahren »zu keinem Zeitpunkt mehr als 10 Prozent der VWL-Professuren in Deutschland mit heterodoxen Ökonomen besetzt« waren (Heise/ Thieme 2015: 180). Es sieht insofern also danach aus, dass selbst mit den Reformen der 1970er Jahre nie eine kritische Masse erreicht wurde, die hätte besonders nachhaltig für eine Pluralisierung der Ökonomik sorgen können.
Insoweit wäre es ganz allgemein notwendig, wenn strukturell die Bedingungen für die Einstellung von mehr Personal verbessert würden. Konkret ginge es um die Schaffung von unbefristeten Stellen.
Folgen der Befristungen für eine Plurale Ökonomik
Die Plurale Ökonomik leidet auch deshalb unter den Befristungen, weil auf diese Weise nur schwer eine Kontinuität an pluraler Lehre und Forschung möglich ist. Deshalb sei daran erinnert, dass insbesondere die Forderung des Netzwerks Plurale Ökonomik nach einer besseren, pluralen Lehre die Veränderungen der Lehrpläne erfordert: Wer soll diese aber in Angriff nehmen, wenn der überwiegende Teil der Stellen an den Hochschulen befristet ist? Es sind nicht nur der Entwurf neuer Lehrpläne und vor allem Lehrveranstaltungen, die Zeit kosten. Nein, wer schon einmal in der Lehre tätig war, wird wissen, dass die Lehrveranstaltungen natürlich immer noch gewisser Anpassungen bedürfen – sei es inhaltlicher oder didaktischer Natur. Wer soll das aber bewerkstelligen, wenn einem die Befristung im Nacken sitzt? Wer ist überhaupt motiviert, auf Befristungen neue Studiengänge zu entwickeln, die er oder sie dann nicht weiter begleiten kann?
Hinzu tritt, dass es auf befristeten Stellen auch nur schlecht möglich ist, Qualifikationsarbeiten – Bachelor- oder Masterarbeiten sowie Doktorarbeiten – zu betreuen. Klar, teils wäre das auch »extern« möglich, also ohne an einer Universität angestellt zu sein. Aber abgesehen davon, dass das nicht immer reputierlich für das Anfertigen einer Qualifikationsarbeit sein mag, wäre das dann in der Regel unbezahlte Arbeit. Das kann tun, wer Zeit hat und/ oder finanziell abgesichert ist. Aber es wird sicher nicht im Sinne einer Pluralisierung der Ökonomik sein, diese Tätigkeiten in die Freizeit oder Nebentätigkeit von prekären – teils auf Arbeitslosengeld lebenden – Lehrpersonen zu verlagern.
An dieser Stelle sei auch an jene erinnert, die ohnehin als »Externe« mit Lehraufträgen plurale Veranstaltungen durchführen. Diese Lehrenden bekommen eine Vergütung für die Lehrstunden und – wenn es gut läuft – für die Betreuung von Klausuren, die dann das gesamte Semester über zu reichen hat. Ob dann im nächsten Semester die Veranstaltung noch einmal durchgeführt wird, das ist dann meist nicht sicher. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass es auch im nächsten oder übernächsten Semester diese Lehrveranstaltung noch einmal geben könnte, kann keine Zusage gemacht werden.
Letztlich ist – so eine Beobachtung – die Pluralisierung der Ökonomik sehr oft an das Engagement einzelner Personen gebunden. Gehen sie in den Ruhestand, drohen die pluralen Veranstaltungen sang- und klanglos zu verschwinden. Die Prekarität in Forschung und Lehre – durch Teilzeit und Befristungen – bietet zudem kein optimales Umfeld für eine nachhaltige Pluralisierung der Lehre: Es bleibt oft die Option, aus dem Unibetrieb ganz auszusteigen und in eine andere Tätigkeit zu wechseln, und mit Befristungsende steht ohnehin ein Wechsel des Arbeitsplatzes an, wenn dieser nicht schon vor Befristungsende erfolgt.
Ein plural-ökonomisch differenzierter Blick
Nun spricht nichts dagegen, die Situation der bislang befristeten Personen in Forschung und Lehre zu verbessern, zum Beispiel durch eine Entfristung oder die Schaffung von Professuren. Allerdings liegt hier aus Sicht einer Pluralen Ökonomik ein weiteres, entscheidendes Problem.
Würden nämlich lediglich neue Stellen geschaffen, dann steht zu befürchten, dass davon hauptsächlich jene profitieren, die auch von den bisherigen Strukturen gestützt wurden: der moderne ökonomische Mainstream. Das würde also zur Folge haben, dass die Einseitigkeit der VWL, wie sie etwa das Netzwerk Plurale Ökonomik beklagt, weiter zementiert wird. Schließlich ist es der moderne ökonomische Mainstream, der bereits jetzt darüber wacht, wer in die Lehre und Forschung eingelassen wird oder wer nicht. Diese Strukturen würden, bliebe es lediglich bei der Forderung nach Entfristung, mehr Stellen und Professuren, schlicht verstärkt.
Im Übrigen ist die Entwicklung der Pluralen Ökonomik derzeit - trotz erfreulicher Entwicklungen - noch nicht weit genug vorangeschritten, um nachhaltig zu wirken: Zu einer Ökonomik, die sich tatsächlich interdisziplinär zeigt, sich als Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaft begreift, vor allem auch methodisch breiter als eine nur andere Modellökonomik aufgestellt ist und auch normative (wirtschaftsethische) Aspekte zu berücksichtigen weiß, ist es noch ein weiter Weg. Heute dominieren vor allem heterodoxe Modellökonomik, deutlich weniger jedoch sozialökonomische oder wirtschaftsethische Perspektiven (siehe dazu kritisch meinen Oxi-Beitrag 2021). Und wer tatsächlich mehr ökomische Ideengeschichte in der ökonomischen Lehre möchte, muss auch dafür sorgen, dass ökonomische Ideengeschichte in Forschung und Lehre eigenständig praktiziert werden kann.2 Das ist heute nicht der Fall und deshalb bedarf es auch anderer Kriterien für die Besetzung von Stellen beziehungsweise eines anderen Umgangs mit Kriterien wie zum Beispiel Publikationen. Dann sollte zum Beispiel nicht das Einwerben von Drittmitteln zählen – bei dem Expertinnen und Experten der ökonomischen Ideengeschichte ohnehin das Nachsehen hätten – , auch nicht die Publikation in Journals mit hohen Rankingwerten, sondern zum Beispiel der konkrete Inhalt von Publikationen, also das, womit sich die Personen tatsächlich wissenschaftlich befassen. Das würde bedeuten, dann auch einmal in die Schriften zu schauen, zu lesen.
Nun besteht dabei aber ein weiteres Problem – das übrigens auch bei vielen Personen bestehen wird, die nicht eine heterodoxe Modellökonomik vertreten: Wer verfügt über die entsprechende Expertise, um die entsprechenden Qualifikationen angemessen beurteilen oder begutachten zu können? Ja, es mag zum Beispiel Personen aus dem Postkeynesianismus geben, die auch ideengeschichtliche Interessen haben. Aber ersetzt das die langjährige Expertise und Routine in der Bearbeitung ideengeschichtlicher Fragen? Wohl kaum! Das Gleiche gilt für die Beurteilung von zum Beispiel Expertise im Bereich Wirtschaftsethik, der Sozialökonomik oder feministischen Fragen.
Es ist also nicht damit getan, einfach mehr unbefristete Stellen zu fordern. Es bräuchte Auflagen oder Kriterien, an die der Stellenausbau und Entfristungen geknüpft werden. Darauf ist gleich noch einmal zurückzukommen.
Departmentstrukturen?
Zuvor ist aber darauf einzugehen, dass in der Debatte um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, aber auch mit Blick auf den Missbrauch von Macht, neue – andere – Organisationsstrukturen gefordert werden. Zum Beispiel plädiert das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft für die »Auflösung der Lehrstühle zugunsten einer demokratisch organisierten Departmentstruktur«. Die Forderung nach einer »demokratisch organisierten Departmentstruktur« klingt zunächst nach einer sehr einleuchtenden Konsequenz aus einer durch Lehrstühle geprägten Universitätskultur, die mit Demokratiedefiziten, dem Machtmissbrauch usw. assoziiert wird. Aber was heißt »demokratisch«? Wie mag sich unter diesem Vorzeichen Pluralität sicherstellen lassen, wie sie das Netzwerk Plurale Ökonomik fordert?
Ohne die Probleme aus einer Lehrstuhlkultur kleinreden zu wollen, können aus Departmenstrukturen aber auch sehr erhebliche Probleme resultieren. Machtmissbrauch kann auch kollektiv stattfinden, indem sich zum Beispiel bestimmte Denkkollektive (Denkströmungen, Denkschulen) organisieren und dann »demokratisch« andere wissenschaftliche Strömungen ausgrenzen. Das muss übrigens noch nicht einmal bewusst geschehen, sondern kann einer sozialen Gruppendynamik und einem habituellen Gleichschritt geschuldet sein. Jedenfalls scheint das bei der Forderung nach demokratischen Dempartmentstrukturen unter den Tisch zu fallen: Ein Department, in dem mehrheitlich moderne empirisch arbeitende Ökonominnen und Ökonomen tätig sind, wird diese Ausrichtung auch unter dem Vorzeichen demokratischer Partizipation fortführen und zementieren. Es wird einen Trend zur Konformität geben, der zum Beispiel marxistische, regulationstheoretische, feministische, sozialökonomische, wirtschaftsethische oder sogar ideengeschichtliche Perspektiven ausgrenzt und auf Abstand hält. Und das ist möglich, wenn vor allem personelle Entscheidungen, die einstmals an einzelnen Lehrstühlen oder in einzelnen Instituten getroffenen wurden, nun eben jenen demokratischen, partizipativen Institutionen unterstellt sind, in denen sich Mehrheiten gegen abweichende Positionen organisieren können. Lehrstühle und Institute dagegen können in einem grundsätzlich nicht wohlgesonnenen Umfeld des Konformitätsdrucks zumindest kleine Inseln der Pluralität sein, wenn sie zum Beispiel den Freiraum haben, eigenständig Personalentscheidung zu treffen.
Zudem mahnt die Erfahrungen der Pluralen Ökonomik zur Zurückhaltung was Departmentstrukturen betrifft. Zum Beispiel gab es an der Wirtschaftsuniversität Wien im Fachbereich »Economics« ein »Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie«. Im Editorial des Kurswechsels 02/2017 war dazu nachzulesen:
»Der vorliegende Kurwechsel ist ein Plädoyer für ein breiteres Ökonomieverständnis als dieses typischerweise im Mainstream praktiziert wird. […] Genau dieser breite Blick auf Ökonomie hat Tradition an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Seit 2003 ist die Tradition durch die Umbenennung des Instituts in Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie explizit mit dem Label ›Heterodox‹ versehen. Dabei geht es vor allem um eine kritische Beschäftigung mit der vorherrschenden Ökonomie, um eine Beschäftigung mit vernachlässigten Aspekten. Heterodoxe Ökonomie wird im Sinne des untrennbaren Zusammenwirkens von politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Komponenten verstanden. Damit hat sich die WU ein Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen Raum geschaffen, denn heterodoxe Lehrstühle sind in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum fast vollständig aufgelöst worden oder anderweitig nachbesetzt worden […].« (Katharina Mader, Koen Smet, Hendrik Theine im Editorial vom Kurswechsel 07/2017| PDF)
Nun kam es 2022 zu einer Umstrukturierung, der Fachbereich wurde zu einer Departmentstruktur transformiert, in der die bestehenden Institute aufgingen: Das erwähnte Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie wurde auf diese Weise recht leise abgewickelt. Wer sich vor Augen führt, dass die heterodoxen Forschenden aus der modernen Ökonomik der WU Wien heraus in der Vergangenheit öffentlich mit Begriffen wie »Pseudowissenschaft« herabgewürdigt wurden, teils als »ideologisch« dargestellt und in die Nähe zu Verschwörungstheorien gerückt waren, wird sich keine Illusionen über die Pluralität einer davon dominierten demokratisch-partizipativen Departmentstruktur machen.
Und das ist der springende Punkt: Die Erfahrung der Pluralen Ökonomik hält dazu an, konkret auf die Situationen vor Ort zu schauen, statt das Heil in pauschalen Forderungen nach Departmentstrukturen zu suchen. Departmentstrukturen können mit Blick auf die methodische und theoretische Pluralität, Interdisziplinarität und Kontroversität auch kontraproduktiv wirken. Wer Machtmissbrauch im Hochschulwesen mit der Ausgrenzung anderer Denkkollektive und Perspektiven verbindet, wird sich noch einmal sehr genau überlegen müssen, ob eine Departmentstruktur immer eine gute Lösung ist oder welche Anforderungen an sie zu stellen wäre.
Wie sähe eine plural-ökonomische Positionierung aus?
Für eine Plurale Ökonomik sind die Debatten um den Zustand der Hochschulen, die Befristungsproblematik usw. höchst relevant, weil sie den strukturellen Rahmen betreffen, in dem sich die Akteure eine Pluralisierung der Ökonomik bewegen. Es ist klar, dass eine höhere Grundfinanzierung notwendig sein wird, um mehr Stellen zu schaffen. Hier könnte mensch sich auch mit dem Vorschlag arrangieren, die Drittmittel, die heute – zum Beispiel über die DFG – verteilt werden, in die reguläre Grundfinanzierung der Hochschulen fließen zu lassen.
Es gibt aber über die reine Quantität an Stellen hinaus auch spezifische Probleme. Wer vermeiden möchte, dass das Denken in Fachbereichen und Departments regelrecht erstarrt, Tendenzen der Einseitigkeit zementiert werden und der Konformitätsdruck auf diese Weise verstärkt wird, der oder die muss dann über weitere Kriterien zum Stellenausbau o.Ä. nachdenken. Es ginge dann also nicht mehr nur um die schlichte Quantität an unbefristeten Stellen, sondern auch um deren Qualität.
Das betrifft in erster Linie und ganz allgemein den simplen Umstand, dass dann auch für diese unbefristeten Stellen die Freiheit in Forschung und Lehre – die derzeit überwiegend für Professorinnen und Professoren realisiert ist – sichergestellt wird. Daraus sind noch harte Auseinandersetzungen um bestehende Privilegien zu erwarten.
Aber inhaltlich wäre aus dem gleichen Grund – der Freiheit in Forschung und Lehre – sicherzustellen, dass auch dissidente/ oppositionelle Perspektiven einen Platz an den Hochschulen haben können. Eine Möglichkeit wäre, den Vorschlag von Frei/ Osterloh (2017) aufzugreifen, bei Berufungsprozessen stärker wie »reading schools« zu arbeiten:
»Im von vielen Ökonomen als Vorbild angesehenen amerikanischen Wissenschaftsbetrieb bezeichnen sich viele Spitzen-Universitäten heute als ›reading schools‹ – das heisst, dass bei Berufungen eingereichte Papiere sorgfältig gelesen werden und nicht auf Indikatoren und Beförderungen abgestellt wird.« (Frei/ Osterloh 2017)
Das könnte als eine Auflage für neue Stellen festgeschrieben werden. Ebenso denkbar wäre, von Fachartikeln in Journals mit hohem Ranking, Drittmitteln usw. als Kriterien abzusehen, die zu bewertenden Publikationen einzuschränken und zum Beispiel die Relevanz der Lehre, Wissenschaftskommunikation usw. aufzuwerten. Mehr Transparenz und Informationsrechte könnten auch für faire Besetzungsverfahren sorgen. Auch das ließe sich als Auflage festschreiben.
Allerdings wäre damit noch nicht das Problem gelöst, dass selbst in der Szene der Pluralen Ökonomik die Expertise in bestimmten heterodoxen Bereichen nicht stark ausgeprägt ist oder altersbedingt abnimmt. Inhaltlich wie strukturell könnten Meta-Kriterien helfen wie der Beutelsbacher Konsens (bpb 2011), der auch ein Kontroversitätsgebot enthält. Das würde bedeuten, dass Lehrstühle und Stellen ganz bewusst kontrovers – zu bestehenden Lehrstühlen, Professuren usw. – besetzt werden.
Eine weitere Möglichkeit könnte sein, formale Kriterien wie fachspezifische Expertise, Zahl an Publikationen, Arbeitsjahre in der Wissenschaft usw. festzulegen – dabei könnte die Orientierung an dem, was hier eben vorgeschlagen wurde, erfolgen (weniger Drittmittel, mehr Lehre usw.) – und dann aus dem Pool der Personen, die über diese Qualifikationen verfügen, per Losverfahren die Kandidat:innen zu bestimmen. Innerhalb des bestehenden Hochschulsystems ließe sich das für unbefristete Mittelbaustellen realisieren. Bei Berufungsverfahren könnten sich – per Los – die Berufungslisten (3er-Listen) ergeben.
Vielleicht lassen sich noch andere Möglichkeiten finden. Was mit diesen wenigen Überlegungen skizziert werden sollte, war, dass sich mit der Forderung nach Verbesserungen für das bislang vor allem befristete Hochschulpersonal auch Punkte verbinden lassen, die über die reine Quantität an unbefristeten Stellen hinausgehen. Das ist für eine Plurale Ökonomik außerordentlich wichtig. Denn wenn die Akteure der Pluralen Ökonomik nicht aufpassen, stehen sie schnell vollendeten Tatsachen: Die bislang kritisierten Zustände der modernen Ökonomik sind zementiert und eine bisher noch in den Kinderschuhen steckende Pluralisierung der VWL versandet.
Zum Beispiel in einem Beitrag vom BR24 vom 10.04.2023, bei Jan-Martin Wiarda in »Mehr als ein Schaulaufen?« oder bei RP-Online vom 12.05.2023.
Hier besteht zudem ein Sonderproblem: Es gibt nämlich nicht nur wenige – im Grunde so gut wie keine – Lehrstühle für ökonomische Ideengeschichte an deutschen Unis. Außerdem gibt es auch Netzwerke wie NOUS, in denen sich ordoliberal angehauchte Forschende organisieren, die dann den ideengeschichtlichen Diskurs zu prägen versuchen. Das wäre an sich nicht verwerflich, aber zusammen mit der Unterausstattung fester, unbefristeter Stellen zur ökonomischen Ideengeschichte entsteht eine deutliche Schieflage. Ein offener, kritischer Diskurs, der gerade in ideengeschichtlichen Fragen notwendig wäre, weil die Schriften usw. immer auch gewisse Interpretationsspielräume lassen, ist unter dem Vorzeichen schwierig umzusetzen. Deshalb bräuchte es schlicht mehr Lehrstühle oder unbefristete Stellen, auf denen eine eigenständige Lehre und Forschung möglich ist.