Top-Premium-Ökonomik, Expertise in allen Belangen?
In vielen Talk-Shows und anderen Medien werden Fachleute ›der‹ Ökonomik eingeladen und äußern sich zu einer ganzen Bandbreite an Themen. Teils gehen sie von selbst in den sozialen Medien an die Öffentlichkeit. Was sich aber dahinter verbirgt, das muss nicht unbedingt sachliche Expertise sein, sondern ist oft genug ein recht eingeschränkter Blick, der an Selbstüberschätzung (Hybris) grenzt und nur ein sehr einseitiges Bild von den ›ökonomisch‹ angesprochenen Themen und Sachverhalten zeichnet.
Das aktuelle TipTop-Premium-Thema: Bürokratie
Zum Beispiel äußern sich die TipTop-Premium-Fachleute ›der‹ Ökonomik gern und ausführlich zur Bürokratie in Deutschland. »Bürokratieabbau«, ein echter Evergreen der ökonomischen Expertise. Was dahinter steckt, das ist aber in aller Regel eine marktaffine und auf Nutzen- und Anreizlogik basierende Interpretation dessen, was sich diese Premium-Fachleute unter »Bürokratie« zusammen-modellieren. Dabei gibt es auch Fachdisziplinen zur Verwaltung – etwa die Verwaltungswissenschaften, Verwaltungsökonomik usw. Aber das müssen aufmerksame Medien offenbar nicht berücksichtigen, wenn sie echte Premium-Fachleute ›der‹ Ökonomik zur Hand haben. Damit werden dann also Fachmenschen aus ›der‹ Ökonomik zur Bürokratie gefragt, die nicht wirklich den Anschein erwecken, einmal mit Menschen aus Verwaltungen usw. gesprochen oder sich dazu auch tiefer und vor allem praktisch mit dem Thema beschäftigt zu haben.
Warum das ein Problem ist? Nun, möglicherweise sind Bürokratie-Probleme vielschichtig, weisen verschiedene Facetten und Einflusspunkte auf. So mögen Bürokratie-Probleme auch im Mangel an Personal begründet liegen. Aber mehr Personal für die Verwaltung zu fordern, das wiederum passt nicht ins marktfundamentalistisch-libertäre Credo vom schlanken und effizienten Staat, auf das sich das Staatsverständnis der premium-ökonomischen Perspektive konzentriert. Ebenso wenig passt es wohl, einmal diese Leute aus der Verwaltungspraxis über die konkreten Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsrichtlinien zu befragen. Denn möglicherweise sind es die Regelungen, die bisweilen im Eifer des Bürokratie-Abbaus beschlossen wurden, die Probleme verursachen. Was für ein Schmach wäre es dann für die premium-ökonomischen Vorschläge, wenn sich die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Abbau von Bürokratie zum Bürokratie-Problem auswachsen?
Zusammengefasst: In der öffentlichen Debatten wird oft, gerne und viel über Verwaltung, Bürokratie usw. gesprochen, aber nicht mit den dort tätigen Menschen. Praxis und Fachwissen werden somit kaum berührt. Darauf angesprochen, rangiert die Premium-Ökonomik auf ihrer modellökonomischen Schmalspur und bedient auf diesem Weg eher den zeitgeistigen Aktionismus und Populismus vom »Bürokratie-Abbau«.
Pandemie- und Bildungsexpertise
Das Thema »Bürokratie« ist nur ein Beispiel für Themen, zu denen sich TipTop-Premium-Fachleute ›der‹ Ökonomik äußern. Während Corona waren diese Fachleute auch Pademie-Expert:innen. Es gab Einschätzungen zu Lockdowns und weiterer Maßnahmen, auch im sozialstaatlichen Bereich. Armin Falk, einst renommierter Verhaltensökonom, durfte auf einer halben Seite in der Zeit über die Frage »Wie viel Lockdown ist ein Leben wert?« sinnieren, wobei er sämtliche Expertisen oder Argumente, die seiner Argumentation zuwiderliefen, ignorierte oder lächerlich machte und echte ethische Abwägungen und die Berücksichtigung der Menschenwürde – immerhin Artikel 1 GG – mit naturalistischen Fehlschlüssen füsilierte. Falk ist kein Fachmensch für ethische Fragen, selbst wenn seine empirischen Experimente zu moralischen Fragen den Eindruck einer gewissen Nähe dazu vermitteln mögen. Seine Argumentation dort zeigte das deutlich. Trotzdem schwang er sich zum Experten auf, der meinte, eine normative Orientierung im Umgang mit Menschenleben geben zu können. Ein absoluter Tiefpunkt ökonomischer Expertise und wahrlich kein Ruhmesblatt für ›die‹ Zunft.
Im Zuge von Corona meldeten sich auch »Bildungsökonom:innen« zu Wort: Nun gab es also aus dem ökonomischen Kreis heraus auch Hinweise, Empfehlungen – oder besser »Mahnungen« – über den Zustand der deutschen Bildung an den Schulen und was denn nun zu tun sein. An anderer Stelle habe ich das ausführlich kommentiert (auf Ex-Twitter hier, hier und hier). Kurz zusammengefasst:
In bildungsökonomischen Studien scheint es völlig legitim, Aussagen über die Bildungsqualität aus einer Befragung von Eltern abzuleiten statt etwa pädagogisches Fachpersonal oder deren Expertise zu berücksichtigen.
Es scheint auch legitim, zwischen »leistungsstark« und »leistungsschwach« zu unterscheiden, das aber lediglich auf Basis von Durchschnittsnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch.
Bildung lässt sich aus bildungsökonomischer Sicht offenbar reduzieren auf eine simple ökonomische Anreiz- und Motivationslogik, die im Anreiz-Prüfzwang endet und nicht nur ihre Nähe zum ökonomischen Imperialismus kaum verleugnen kann, sondern auch gehörig den Geist schwarzer Pädagogik atmet (Erziehung durch Einschüchterung, Erniedrigung, im weitesten Sinne ›Gewalt‹…).
Der Bildungserfolg bzw. der Effekt von ›Bildungsverlust‹ wird bildungsökonomisch oft am Lebenseinkommen (!) bemessen, d. h. es wird ein Blick in die Glaskugel geworfen, wie sich das Einkommen über das gesamte Erwerbsleben entwickelt.
TipTop-Premium-Ökonomik mit Expertise in militärischen Fragen
Fachleute ›der‹ Ökonomik sind aber nicht nur Pandemie- und Bildungs-Expert:innen, nein, sie äußern sich seit dem Februar 2022 auch im militärischen Kontext. Nun ließe sich hier zugute halten, dass die Expertise zu wirtschaftlichen Sanktionen durchaus in das Metier ›der‹ Ökonomik fällt. Nur fällt auf, dass die Erkenntnisse dazu im speziellen Fall der Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation offenbar doch auf etwas merkwürdig anmutenden Annahmen basieren mussten. Denn wer sich Metastudien zu Wirtschaftssanktionen anschaut, wird – je nach Studie – feststellen, dass nur ein Drittel der verhängten Sanktionen oder 40 Prozent ›erfolgreich‹ waren (wobei zu klären bliebe, was ›Erfolg‹ eigentlich heißt), d. h. etwa zwei Drittel (2/3) bis ca. 60 Prozent solcher Sanktionen waren nicht erfolgreich. Tatsächlich geben diese Studien auch Anlass, über die Voraussetzungen nachdenken, die gegeben sein müssen, damit solche wirtschaftlichen Sanktionen ›erfolgreich‹ sein können (Größe des zu sanktionierenden Landes, Handelsbeziehungen bzw. Import- und Export-Abhängigkeit, politische Situation, Rohstoffe usw.). Der Faktor ›Zeit‹ scheint auch keine untergeordnete Rolle zu spielen, denn je länger eine Sanktion wirkt oder auch braucht, um wirken zu können, desto stärker lässt es sich daran anpassen. Kurz: Viele dieser Überlegungen hätten zu der etwas unangenehmen Einsicht führen können, dass es außerordentlich schwierig sein wird, ein so großes und bedeutsames Land wie die Russische Föderation wirtschaftlich zu sanktionieren. Das heißt nicht, dass es keine Möglichkeiten gegeben hätte, partiell so sanktionieren zu können, dass hätte Druck auf politische Eliten aufgebaut werden können. Aber zum Beispiel ein Vermögensregister, das es gezielt ermöglichen würde, das Vermögen von Oligarchen und politische Eliten der russischen Föderation ins Visier zu nehmen, aber auch möglicherweise außer Landes gebrachtes Vermögen aus der Ukrainischen Republik zu identifizieren, das war offenbar nicht wirklich gewollt.
Nun setzt zunehmend Ernüchterung ein (siehe z.B. die Beiträge hier und hier), obwohl diese Entwicklung – zumindest in der Tendenz – absehbar war. Selbst auf dem eigenen Gebiet (Ökonomik) herrschte also ein ausgesprochen befremdlicher Optimismus vor, davon auszugehen, mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Russische Föderation die von ihr ausgehende militärische Aggression zum Erliegen zu bringen.
Den Vogel schossen die ›Embargo-Boyz‹ um Moritz Schularick, dem EconTwitter-Troll Rüdiger Bachmann u.a. ab, als sie 2022 mit einem Papier zu einem Gasembargo aufriefen. Von Anfang an war ihre ›Studie‹, in der sie für ein Gasembargo warben, von einem Tonfall des Vorwurfs gegenüber der deutschen Bundesregierung begleitet: in der Tendenz falsch beraten, Politik nach Bauchgefühl, unter dem Einfluss Besitzstand wahrender Lobbys. Wie fehlgeleitet und ideologisch verbohrt diese Studie und die damit verbundenen Argumente waren, das thematisierte jüngst der Ökonom Tom Krebs in seinem Buch »Fehldiagnose« (hier im Interview mit Capital). Tom Krebs hatte sich bereits während der Debatte um das Embargo kritisch zu Wort gemeldet (auf Makronom und in einem Papier für die Böckler-Stiftung). Mein ergänzender Kritikpunkt dazu ist, dass es sich beim Embargo auch um eine wirtschaftliche Sanktion handelt, es in dem Papier der ›Embargo-Boyz‹ aber keine Einordnung in diese Problematik gab: Auch hier lässt sich wieder kritisch fragen, was für die Annahme sprach, dass diese Wirtschaftssanktion zum Kreis jener 33% bis 40% an Sanktionen gehören sollte, die tatsächlich erfolgreich sein – Wirkung zeigen – würden.
Mittlerweile schreiben sich Fachleute ›der‹ Ökonomik selbst eine so versierte militärische Fachexpertise zu, dass eine TipTop-Premium-Ökonomin wie Veronika Grimm sich zu Fragen der atomaren Abschreckung äußert (siehe FAZ und X); und Moritz Schularick kalkuliert munter mit anderen aus dem Institut für Weltwirtschaften, was die militärische Durchsetzung der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Ukraine ›uns‹ kosten würde (ifw, 02.11.2024; Kiel Policy Brief 179) und empfiehlt vor dem Hintergrund die weitere militärische Unterstützung. Das mag aus Sicht von westlich sozialisierten Forschenden gut gemeint sein, aber erweist sich im utilitaristischen Ansatz als ethisch fragwürdig und in verschiedenen Annahmen als sehr einseitig bis ideologisch geprägt, was solche Empfehlungen eben nicht unproblematisch macht. Überdies wird damit ein ein kriegstreiberisches, militantes Klima gefördert. Hinzu kommt, dass im Zuge dessen Gesellschaftsbereiche gegeneinander ausgespielt werden und diese TipTop-Premium-Ökonomen damit auch den Verlust sozialen Friedens nicht nur in Kauf nehmen, sondern ihn fördern: Bewusst werden »harte Budgetentscheidungen zwischen ›Kanonen statt Butter‹« als Erfordernis konstatiert und gleichzeitig den Rentnern das Zahlen der »Zeche« für die als notwendig erachtete Militarisierung zugewiesen.
Völlig schräg wird es, wenn die Frage um Frieden auf Spieltheorie heruntergebrochen wird. Echte Expertise sieht anders aus. Das zeigen etwa Friedensethiker wie Wolfgang Palaver, die darauf hinweisen, dass etwa Gewaltfreiheit – und damit Frieden – Training und Vorbereitung brauchen. Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und damit verbundene Doppelstandards, Nationalismus, Autoritarismus und Bellizismus sind keine guten Voraussetzungen für Friedensprozesse, im Gegenteil. Aber davon haben TipTop-Premium-Ökonom:innen wie Moritz Schularick oder Veronika Grimme keine Ahnung. Woher auch, Frieden und Friedensethik sind nicht ihr Metier.
Ökonomische Expertise zum Rechtspopulismus?
Die Frage, warum Menschen rechte, rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien wählen, ist neuerdings auch ein Thema in ›der‹ Ökonomik. Dazu gibt es Studien, die der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann im Februar 2022 für den Blog ›Politik & Ökonomie‹ scharfsinnig kritisiert hat. Die blinden Flecken sind dabei wohl vor allem ideologisch bedingt. Der Einfluss ökonomischen Denkens in ›Imperativen des Marktes‹ (Heitmeyer) wie Effizienz, Wettbewerb, Produktivität usw. spielt dort üblicherweise keine Rolle. Dabei ist es bereits im ›Markt‹ als regulativer Idee angelegt, Ungleichheit zu suchen, zu bewerten und damit permanent Ungleichwertigkeit zu produzieren. Darin findet sich ein Grundstein für soziale Abwertungen und Feindseligkeiten (nach Heitmeyer: Ideologie der Ungleichwertigkeit), die der Sympathie für rechte bis rechtsextreme Parteien zu Grunde liegen. Damit werden Normalitäts-Standards des Sagbaren verschoben. Heitmeyer und seine Forschenden sprachen hierzu von ›roher Bürgerlichkeit‹ und ›Extremismus der Mitte‹.
Was ich deshalb auch bemerkenswert finde, ist, dass es gerade in Deutschland mit den Mittestudien und den Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit empirische Untersuchungen und Erklärungen gibt, die aber in den ökonomischen Analysen zum Rechtspopulismus usw. üblicherweise kaum – bis gar keine – Erwähnung finden: ›rohe Bürgerlichkeit‹, ›Extremismus der Mitte‹, ›marktförmiger Extremismus‹ etc. scheinen aus ökonomischer Sicht Fremdwörter zu sein. Dabei würde es doch eigentlich zur guten Forschungspraxis gehören, darauf einzugehen. Schließlich gehört die eigene Arbeit in den Stand der Forschung eingeordnet! Dazu wären auch die eigene Methodik, das eigene Forschungsdesign usw. zu rechtfertigen – insbesondere dann, wenn wie mit den Mittestudien und den Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, empirische Langzeitstudien existieren.
Ernüchterndes Fazit
Sicher gibt es noch mehr Beispiele dafür, wie ökonomisches Denken auf andere Sachverhalte angewendet und dies als ›Fachexpertise in der Sache‹ ausgewiesen wird. Aber die hier erwähnten Sachverhalte sollten bereits genügen, um sich verwundert zu zeigen darüber, dass in den Medien die TipTop-Premium-Ökonomik zu allerlei Sachverhalten befragt wird, obwohl es dazu echte Fachexpertise gibt. Nun könnte eingewendet werden, dass die marktaffine ökonomische Logik seinen Reiz hat, weil sie einfache Antworten liefert. Aber genau darin liegt das Problem. Es ist schlicht befremdlich, dass zu diversen Themen TipTop-Premium-Fachleute aus ›der‹ Ökonomik öffentlichkeitswirksam ins Licht gerückt werden, die jedes Problem als Nagel wahrnehmen, der sich auch nur mit dem standard-ökonomischen Hammer bearbeiten lässt. Am Ende wird auf diese Weise die Wahrnehmung sozialer oder anderer Probleme geprägt: Jedes Problem erscheint als Nagel, der nach dem Hammer ruft. Noch befremdlicher ist nur, wie unkritisch das in den Medien aufgegriffen wird. In Zeiten, in denen Skeptizismus und Kritik an ›der Forschung‹ geäußert wird, erweist sich das geradezu als Sargnagel der Glaubwürdigkeit von Forschung und Lehre. Auch auf diese Weise wird autoritären Tendenzen und Populismus der Weg geebnet. Das Problem geht hier nicht von Querdenker:innen, Rechtsextremist:innen usw. aus. Nein, es sind ›die‹ Medien, aber auch die universitäre Forschung, die für diese Situation die Verantwortung tragen. Und das ist ziemlich ernüchternd.