Verhaltensökonomisches »Ethics Washing«?
Im FAZ-Sonntagsökonomen war kürzlich unter dem Titel »Markt und Moral« (Bezahlschranke) ein Beitrag von Patrick Bernau zu lesen, der wie folgt eingeleitet wurde: »Sind Märkte schlecht für wertgeleitete Entscheidungen der Menschen? Untergräbt der Wettbewerb die Moral? Darüber streiten Ökonomen seit Jahren.«
Bereits an dieser Stelle dürfte mensch sich bereits verwundert am Kopf kratzen. Warum? Erstens sind moderne Ökonom:innen in der Regel keine Fachleute Moral. So etwas wie »Wirtschaftsethik« ist in der VWL eher Fremdwort. Wenn es dort auftaucht, droht es eher in »ethics washing« – in eine marktkonforme Ethik – abzudriften (Ethik mit ökonomischer Methode etc.) oder aber es reduziert sich auf einen rein deskriptiven, also empirisch beschreibenden Blick. Letzteres bedeutet, sich mit »moralischem Verhalten« als einem empirischen Phänomen zu befassen, seine Ausprägungen, sein Auftreten etc., aber über den substanziellen Gehalt nur begrenzt etwas aussagen zu können. In diesem Sinne ließe sich zeigen, dass Menschen nicht ganz wie ein Homo Oecomicus reagieren, weil sie von dieser ökonomisch-rationalen Norm abweichen; oder dass ein bestimmter Teil an Menschen im Durchschnitt einen bestimmten Teil eines Geldbetrags anderen zur Verfügung stellt, ohne etwas dafür zu erwarten. Was dann aber ganz konkret die ethischen Abwägungen betrifft, das Urteilen und Rechtfertigen, wie es typischerweise mit einer normativen Ethik verbunden wird, das bleibt dann außen vor.
Zweitens ist die Debatte um Wettbewerb und Moral doch viel älter als an dieser Stelle suggeriert wurde. In dem Zusammenhang wirkt es geradezu befremdlich, wenn es beim Sonntagsökonomen hieß, dass »[d]er große Streit [..] vor fast genau zehn Jahren« begann, und er dann Adam Smith erwähnte, laut dem das Gewinnstreben in größeren Gesellschaften von Vorteil sein könne, sofern damit nicht übertrieben würde. Hat es also seit Adam Smith keine Debatte dazu gegeben? Brachte also erst ein Bonner Verhaltensökonom (Armin Falk) diese Problematik mit seinem »Mäuse-Experiment« 2012 neu auf den Tisch? Natürlich nicht! Wer sich mit wirtschaftsethischen Fragen, mit Soziologie usw. befasst, wird sich angesichts solch eines Eindrucks verwundert die Augen reiben. Zu Recht! Denn zum Beispiel Peter Ulrich in seiner Integrativen Wirtschaftsethik, aber auch der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann (Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, 2010) befassen sich schon lange – vor allem kritisch – mit Fragen der Moral im Wettbewerbskontext! Es gibt noch andere Forschungen, aus der Soziologie, zum Beispiel zum »marktförmigen Extremismus«, Ökonomismus usw.
Aber gut, wer Moral und Ethik rein deskriptiv – im positivistischen Sinne als reine Beobachtung von Phänomenen – versteht und so vor allem methodisch befangen im ökonomischen Mainstream bleibt, wird diese anderen Perspektiven vermutlich nicht kennen oder auch nicht »nennenswert« empfinden. Genau das scheint beim Sonntagsökonomen zuzutreffen, dessen Blick auf verhaltensökonomischen Experimenten lag.
Die Moral von einem verhaltensökonomischen Meta-Experiment…
Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht verständlich, warum den Text über unklar blieb, was eigentlich mit »Moral« und »Ethik« gemeint war. Zwar wurden einleitend die Fragen angeführt, ob »Moral« durch »Märkte« untergraben würde und »ethische Werte« leiden könnten. Aber welche konkrete Moral? Welche Werte im Detail? Etwas Aufklärung bot der erwähnte Fokus des Sonntagsökonomen: Der eigentliche Anlass für seinen Text war ein groß angelegtes »Meta-Experiment« zur Frage, ob Wettbewerb moralisches Verhalten beeinflusst. Dieses umfasste mehrere Experimente. Und in dem Kontext wurde in einem Experiment »Moral« mit »lügen«/ »ehrlich sein« assoziiert. In einem anderen Experiment war »Moral« offenbar mit dem Anteil eines Geldgewinns verbunden, der »für einen guten Zweck« gespendet wurde.
Plötzlich erwähnte der Sonntagsökonom, dass auch die Qualität der Experimente unterschieden wurde: Es gab eine »Fachbewertung« in »gute« & »schlechte« Experimente. Aber was heißt das konkret? Was ist ein »gutes«, was ein »schlechtes« Experiment? Woran macht sich die Güte eines Experiments fest?
Aber ungeachtet von der Qualität zeigten die Experimente: »Wettbewerb schadet der Moral, aber nur ein kleines bisschen.« Der Unterschied zwischen Wettbewerb und Nicht-Wettbewerb, heißt es, mag für sehr sensible Personen spüren sein: »Es gibt aber andere Faktoren, die viel wichtiger sind.« (Bernau, FAZ 2023)
Irgendwie wurde an dieser Stelle nicht klar, wofür »andere Faktoren« »viel wichtiger« sein sollen? Wichtiger für den Schaden, den ›die‹ Moral nimmt? Und wieder stellte sich fundamental die Frage: Was heißt hier überhaupt »Moral«? Lässt sich die Aussage, dass andere Faktoren viel wichtiger seien, so einfach verallgemeinern? Besonders merkwürdig ist der Umstand, dass der Sonntagsökonom erst behauptete, es gäbe »andere Faktoren, die viel wichtiger sind«, dann die Frage stellt, was diese Faktoren eigentlich sind, um gleich im Anschluss daran bei der Antwort zu laden: »Das ist schwieriger zu sagen.«1
»Sicher«, so schrieb der Sonntagsökonom, sei »nur: Weil die Rolle des Wettbewerbs so klein ist, muss es andere Faktoren geben.« Die Forschung, auf die sich der Sonntagsökonom bezog, helfe nicht wirklich weiter. Dann wurde spekuliert:
»Vielleicht beeinflusst Wettbewerb eher die Ehrlichkeit der Menschen als ihre Großzügigkeit. Vielleicht hat Wettbewerb nur einen schwachen Effekt, wenn es um eine finanzielle Belohnung geht – und einen etwas stärkeren, wenn es um andere Dinge geht. All diese Ergebnisse sind aber bestenfalls erste Anhaltspunkte.« (Bernau, FAZ 2023)
Es wurde erwähnt, dass vielleicht die prinzipielle Ehrlichkeit eine Rolle spiele. Ob Angst existiert, »übers Ohr gehauen zu werden.« Es gäbe »Dutzende Einflussfaktoren.« Der Sonntagsökonom übt dann wenige Zeilen Methoden-Kritik, hielt dann aber fest, was für ihn besonders wichtig erschien:
»Und jetzt kann die Welt sich erst mal einigermaßen sicher sein: Wettbewerb schadet der Moral, aber wirklich nur ein sehr kleines bisschen.« (Bernau, FAZ 2023)
Grundsätzliche Kritik
Was ich an dem Text ärgerlich finde ist nicht zwangsläufig der verhaltensökonomische Fokus und die Begeisterung (?) des Sonntagsökonomen dafür. Ich finde das, was dort empirisch untersucht wurde, durchaus auch interessant. Auch über die offensichtlich wirtschaftsliberale Marktaffinität ließe sich noch hinwegschauen. Wirklich befremdlich ist für mich aber
der vermittelte Eindruck, dass die Frage von »Moral« und »Märkten« nur über solche Experimente bearbeitet werden kann;
damit im Zusammenhang stehend das Ausblenden anderer Forschungen zu dem Thema;
das damit verbundene Fehlen einer kritischen Einordnung der Experimente in den aktuellen Stand der Forschung zu dieser Problematik; und
der Umstand, dass »Moral« und »Wettbewerb« sich zwar in den Experimenten als »lügen«/ »ehrlich sein« und freiwilligen Spenden assoziieren ließen, darüber hianus aber offenbar abstrakte und inhaltsleere Begriffe bleiben.
Tatsächlich lässt sich bereits methodisch und vom Forschungsdesign her fragen, ob und inwiefern diese verhaltensökonomischen Experimente Schlüsse darauf zulassen, ob ›Wettbewerb‹ und ›Märkte‹ ›ethische Werte‹ und ›Moral‹ untergraben. Müsste nicht erst einmal geklärt werden, wie die Zusammenhänge dazu gestaltet sein können? Was heißt ›Wettbewerb‹? Was ist ein ›Wettbewerbszusammenhang‹? Davon abgesehen: Wäre es in dem Kontext der Fragestellung (Moral & Wettbewerb) nicht vielleicht sogar naheliegend, sich in die Gefilde der »Einstellungsforschung« – wie sie u.a. in den Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (bpb) durchgeführt wurden – zu begeben? Was spricht dagegen? Welche wissenschaftliche Abwägung führte dazu, verhaltensökonomische Experimente heranzuziehen und andere Forschungsdesigns zu verwerfen? Gab es diese Abwägung überhaupt?
Aber auch wenn mensch bei den verhaltensökonomischen Experimenten bleibt, gilt festzuhalten, dass diese zu unterschiedlichen Urteilen kommen in der Frage, ob ökonomisches Denken zu einem »asozialen« Verhalten führt. Es gibt Experimente, deren Ergebnisse die Forschenden so interpretieren, dass Menschen, die zum Beispiel Ökonomik studieren, »egoistischer« sind, dies aber auf Selbstselektion zurückginge (»Egoisten« wählen eher dieses Fach als ein anderes); dagegen gehen andere Experimente davon aus, dass die ökonomische Ausbildung auch »egoistische« Spuren hinterlässt. Zum Beispiel berichteten Eva Schweitzer-Krah und Tim Engartner in ihrer Studie von 2019 über folgende Veränderungen, die Studierende der VWL durchlaufen:
»Gemeinwohlorientierte Eigenschaften wie Gerechtigkeitssinn, Idealismus, Solidarität und Hilfsbereitschaft treten in den Hintergrund, während vorteilsbedachte Attribute wie Leistungsdruck, Karriereambitionen und Konkurrenzdenken deutlich an Raum gewinnen. In ihrem Verhalten nehmen die Studierenden damit verstärkt Züge eines Menschenbildes an, das einem nutzenkalkulierenden ›Homo oeconomicus‹ entsprechen würde. Für diese Veränderung machen die Studierenden der Stichprobe vor allem einen Faktor verantwortlich: den immensen Wettbewerbsdruck in ihrem Fach, der hochschulweit beklagt wird (56,4%).« (Schweitzer-Krah & Engartner 2019, Makronom)
Mit »Konkurrenzdenken« wurde dort (Schweitzer-Krah & Engartner 2019) eindeutig der »Wettbewerb« adressiert. Mensch hätte solche Studien zum Anlass nehmen können, kritisch zu fragen, wie sich diese empirischen Ergebnisse zu denen verhalten, die der Sonntagsökonom anführte. Womöglich hätte sich der Sonntagsökonom dann weniger sicher zur verallgemeinernden Schlussfolgerung hinreißen lassen, dass Wettbewerb »nur ein sehr kleines bisschen« der Moral schaden würde.
Wer die Ergebnisse der Experimente, die der Sonntagsökonom anführte, kritisch einordnen wollte, hätte dann wohl auch auf die Studien von Wilhelm Heitmeyer zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Wikpedia) eingehen können. Das war eine empirische Langzeituntersuchung zur Einstellung ›der‹ Deutschen, die schon deshalb interessant ist, weil die Forschenden um Heitmeyer ›die Deutschen‹ repräsentativ über einen langen Zeitraum untersuchten, sie sich mit ökonomistischen Einstellungen befassten und es in dem Kontext Detailanalysen zur Wettbewerbsorientierung sowie einem »marktförmigen Extremismus« gab. Zum Beispiel thematisierten Groß/Hövermann (2014| PDF) Zusammenhänge zwischen Rechtsextremismus und marktförmigen Extremismus.
Abbildung: Tabelle 6.5 in Groß/Hövermann (2014: 116 | PDF)
Dazu hieß es bei Groß/ Hövermann (2014):
»Menschen, die marktförmigen Extremismus befürworten, tendieren auch dazu, die Aussagen zum Rechtsextremismus zu befürworten.« (Groß/Hövermann 2014: 116 | PDF)
»Der marktförmige Extremismus hängt gegenwärtig in der deutschen Bevölkerung offenbar eng mit rechtsextremen Ideen zusammen. Darüber hinaus finden wir deutliche Unterschiede bei beiden Subgruppen – sowohl bei den Personen, die mit den Argumenten der AfD sympathisieren, als auch bei denen, die im Zuge der Eurokrise Angst um ihre Ersparnisse und ihren Lebensstandard haben: Bei beiden geht der marktförmige Extremismus über alle Dimensionen hinweg deutlich stärker mit Rechtsextremismus einher als beim Durchschnitt der Bevölkerung. « (Groß/Hövermann 2014: 117 | PDF)
Im Fazit wurde festgehalten:
»Marktförmiger Extremismus ist kein dominantes Phänomen in der Mitte, jedoch weist er über die unternehmerische Selbstoptimierungsnorm deutliche Verbindungslinien zur Mitte auf und öffnet dort damit Türen für Abwertung und Ausgrenzung mit dem Argument mangelnder Nützlichkeit und Ineffizienz. Marktförmiger Extremismus ist damit ein Ausdruck der Fragilität der Mitte. Zur Normalität gewordene Forderungen nach unternehmerischen Tugenden und Fähigkeiten in allen Lebenslagen, die von jedem zweiten Menschen in Deutschland vertreten werden, sind eine Bruchstelle in der Mitte, gleichsam deren Verbindungslinie zum marktförmigen Extremismus. Wenn dann zusätzlich Bedrohungsängste der Menschen um ihren Lebensstandard auftreten, sind Personen besonders anfällig für marktförmigen Extremismus. Zugleich steht dieser empirisch in deutlicher Verbindung mit rechtsextremen Einstellungen.« (Groß/Hövermann 2014: 117-118 | PDF)
Insofern lassen die Studien zum marktförmigen Extremismus durchaus Sorge darüber entstehen, inwiefern marktförmiges Denken – auch im Sinne einer Wettbewerbsideologie – sich in menschenfeindlichen Einstellungen niederschlägt und damit Moral und »ethische Werte« unterminiert. Und das wiederum steht der Verallgemeinerung des Sonntagsökonomen entgegen, wonach der Einfluss von ›Wettbewerb‹ auf ›die‹ Moral nur sehr klein wäre. Auf dieser rein empirischen Ebene hätte das einen kritischen Kontrast zur Einordnung geben können.
Ergänzend ließe sich aus wirtschaftsethischer Sicht auf der begrifflichen Ebene kritisch fragen, was »Wettbewerb« eigentlich bedeutet. Denn es lassen sich bereits in der Idee von ›Wettbewerb‹ misanthropische Momente identifizieren, die sich dann nicht nur abstrakt in der Theorie bewegen, sondern teils auf sozial- und wirtschaftspolitische Empfehlungen durchschlagen (Thieme 2012).
Mit diesen Forschungsbeiträgen im Hinterkopf wirkt der Beitrag im Sonntagsökonomen nun leider, als ob so einseitig und unkritisch wie apodiktisch ein Meta-Experiment auf offenbar verhaltensökonomischer Basis hergenommen werden sollte, um den negativen Einfluss von ›Wettbewerb‹ und ›Markt‹ auf ›Moral‹ bzw. ›ethische Werte‹ als lediglich »ein bisschen« zu relativieren. Angesichts dessen, was es zu diesem Thema alles an Forschung gibt, wirkt das befremdlich. In der apodiktischen Form des Beitrags scheint es fast so, als ob ›Markt‹ und ›Wettbewerb‹ ob ihrer kritischen Wirkungen, die andere Studien durchaus problematisieren, ethisch reingewaschen werden sollten.
Der Zusammenhang im Wortlaut: »Es handelt sich also um einen Unterschied, den man messen kann, und sehr sensible Personen werden ihn vielleicht auch spüren. Es gibt aber andere Faktoren, die viel wichtiger sind. […] Und was sind die Faktoren, die für die Moral eine größere Rolle spielen als der Wettbewerb? Das ist schwieriger zu sagen. Sicher ist nur: Weil die Rolle des Wettbewerbs so klein ist, muss es andere Faktoren geben.« (Bernau, FAZ 2023)