Viel Luft oder: Schmalspurethischer Kapitalismus
Patrick Breitenbach und Human Nagafi hatten Wolfgang M. Schmitt und mich eingeladen, um zusammen einen Vortrag von Markus Gabriel zum Thema »Ethischer Kapitalismus – Modell der Zukunft« (YT) zu diskutieren. Markus Gabriel ist Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn und ein medial sehr präsenter Philosoph. In seinem Vortrag, den er im September 2023 am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik in Luzern hielt, traf also Philosophie – speziell Ethik – auf ›Wirtschaft‹. Das klingt interessant? Von einer bestimmten kritischen Warte aus ja, vielleicht. Fachlich ist es mindestens eine Enttäuschung, was Gabriel dort vom Katheder spielte. Wolfgang M. Schmitt schrieb nicht ohne Berechtigung von einer großen Peinlichkeit.
Blamabel
Das fängt an bei einer Rhetorik, die teils aus billigen Schoten besteht, welche sich vornehmlich aus Vorbehalten, Ressentiments speisen und unliebsame Positionen ins Lächerliche ziehen. Das geht weiter mit einer völlig unterkomplexen Definition von »Kapitalismus«, die nichts mit dem üblicherweise kritisierten Kapitalismus zu tun hat, bar aller kapitalistischen Probleme ist (Macht, Ausbeutung, Vernutzung der Natur usw.) und hinter der sich unter dem Strich die Bedingungen für das (neoklassische) Angebots-Nachfrage-Modell einer idealen Marktwirtschaft verbergen. Was Gabriel hier also skizziert, das ist nicht »Kapitalismus«, sondern ein wirtschaftstheoretisches Marktmodell, das sich jedem VWL-Lehrbuch entnehmen lässt.
Dann ein Wertproblem, das nicht etwa mit der Arbeitswertlehre oder der Transformation von Werten in Preise zu tun hat, sondern lediglich mit der Frage in Verbindung steht, »wie es sein kann, dass der Kuchen wächst.« Dabei kommt er auch irgendwie auf den Mehrwert, der für Gabriel – salopp formuliert – das Ergebnis reiner Zuschreibung ist, die auch noch tautologische Züge zu tragen scheint: Mehrwert entsteht dadurch, dass Menschen einer Sache mehr Wert beimessen. Dass Mehrwert entsteht, weil Menschen in einer arbeitsteilig organisierten kapitalistischen Gesellschaft physisch mehr erwirtschaften als sie zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft benötigen (Reproduktion) und dieser Teil genau das ist, was sich Kapitalist:innen aneignen (Ausbeutung), das taucht bei ihm nicht auf.
Dann stellt er eine Ethik vor, die an einem Reflexionsstopp leidet, der ihr eigentlich die Substanz raubt: Gabriel stellt auf einen Universalismus ab, den er an einem abstrakten Beispiel – ein Kind droht zu ertrinken – erklärt, in dem eine bestimmte Handlung (das Retten des Kindes) einfach als »gut« deklariert – naturalisiert, gesetzt – wird. Das Beispiel ist aber erstens so abstrakt, dass es kaum eine reale Relevanz haben dürfte. Es sind alle Dinge, die den Kontext einer ethischen Abwägung betreffen, ausgeklammert. Mensch mag ihm das noch als Gedankenspiel durchgehen lassen. Aber die Konsequenz ist – zweitens –, dass Gabriel hier einen Reflexionsstopp begeht, der jegliche ethische Reflexion kappt. Tatsächlich existieren nämlich ganz unterschiedliche Ethik-Konzepte, die unterschiedliche Antworten und/ oder unterschiedliche Rechtfertigungen/ Begründungen liefern (Utilitarismus, Kategorischer Imperativ, Sympathy bei Smith, Katholische Soziallehre, Integrative Wirtschaftsethik, Republikanische Unternehmensethik, Menschenwürde). Alles das wird bei Gabriel aber offensichtlich ausgeblendet. Und somit erscheint das, was er dort als Ethik präsentiert und mithin sein ethischer Kapitalismus mit Blick auf ethische Fragen recht arm an Substanz. Das geht in meinen Augen soweit, dass sich bezweifeln lässt, ob es sich bei dem, was Gabriel dort vorstellt, überhaupt um einen ethischen Kapitalismus handelt. Und zwar nicht, weil Gabriels ethischer Kapitalismus einer misanthropischen Ethik zusprechen würde (Darwinismus, Demokratiefeindlichkeit usw.), sondern weil sich tatsächlich nicht viel an ethischer Substanz findet, die es berechtigt, von einem »ethischen« Kapitalismus zu sprechen.
Diese und andere Punkte haben Patrick Breitenbach, Human Nagafi, Wolfgang M. Schmitt und ich in dem oben verlinkten Beitrag diskutiert. Eine Ergänzung (Substantiierung) dazu und eine Angelegenheit, die wir nicht mehr besprechen konnten, möchte ich aber gerne noch nachtragen.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Wer etwas im Gebiet der »Wirtschaftsethik« bewandert ist, darf sich arg wundern über die Attitüde, mit der Gabriel hier auftritt. Nichts von dem, was er dort vorstellt, ist wirklich neu. Das, was er dort vorstellt, das atmet den Geist der sogenannten »Ethik« mit ökonomischer Methode, nach ihrem »Gründungsvater« Karl Homann auch als »Homan-Ethik« bezeichnet, teils auch als »Ordnungsethik«. Diese Ethik-Konzeption ist deutlich marktaffin ausgerichtet und ihre Vertreter verteidigen ›den‹ Kapitalismus und die ihn forcierende vorherrschende Ökonomik. Wie stark Gabriel an der Tonlage Homanns liegt, lässt sich an folgender Passage bei Homann ablesen:
»Angesichts der vielfältigen moralischen Probleme und Krisen werden in der öffentlichen wie in der akademischen Diskussion mit leichter Hand normative Postulate entwickelt und ultimativ ihre Umsetzung durch jeden einzelnen gefordert. Diese führte – und führt bis heute – zu dem verbreiteten Moralisieren und Appellieren sowie den spiegelbildlichen Schuldzuweisungen – an die Wirtschaft, die Politik und dergleichen mehr –, ohne dass die Restriktionen in Betracht gezogen würden, denen die Akteure in einer Marktwirtschaft mit Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen unterliegen; ja, die moralische Empörung über die vielen beklagenswerten Zustände in der Welt führte nicht wenige, auch wohlmeinende Kritiker zu einer Ablehnung des Gesellschaftssystem in toto bis hin zur Gesinnungsmilitanz.« (Homann in van Aaken/Schreck [Hrsg.] 2015: 23-24)
Homann und den Vertretern seiner Denkschule geht es darum, Ethik nicht gegen, sondern - ausschließlich - mit den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln. Ethik wird dort als Investitionen begriffen, die sich rentieren soll. Daraus resultiert der bekannte Vorwurf, der Homann-Ethik ginge es um das Primat der Ökonomik, hinter dem die Ethik zurückstehen müsse. Moralisch gut ist, was sich auszahlt. Diese Denkrichtung sitzt in Deutschland fest im Sattel (siehe Thieme 2022). Aber abgesehen von der berechtigten Kritik, die an dieser Ethik-Konzeption geübt wird, lässt es aber bass erstaunen, wie Markus Gabriel sich als »Neuist« inszeniert mit einem »ethischen Kapitalismus«, dessen Geist sich schon seit etwa dem Ende der 1980er Jahren entfaltet und letztlich auch mehr Substanz aufzuweisen hat als das, was Gabriel in seinem Vortrag vorstellt.
Das Neue: Kapitalismus im Plural
Gegen Ende seines Beitrags behauptet Gabriel, dass in ›der‹ Ökonomik (der VWL) vom Kapitalismus in der Einzahl gesprochen würde. Abgesehen davon, dass er dies in seinem Vortrag selbst nicht abzuschütteln vermag, muss ihm wohl entgangen sein, dass in der Ökonomik sehr wohl über unterschiedliche Kapitalismen nachgedacht wird. Exemplarisch dafür ist »Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage« von Peter A. Hall und David Soskice (2001). Das heißt zwar nicht, dass »Kapitalismus« nun das große volkswirtschaftliche Forschungsthema wäre, einen etablierten Leitbegriff darstellt und in den Lehrbüchern angekommen ist. Es verhält sich aber eben auch nicht so wie Gabriel mit seinen apodiktischen Aussagen vermittelt, dass in ›der‹ Ökonomik - so sich sich damit befasst - »Kapitalismus« dort nur in der Einzahl gedacht würde.
Fazit
Wer den Vortrag von Gabriel verfolgt und etwas Wissen über Ökonomik, Plurale Ökonomik und die Entwicklung der Wirtschaftsethik in Deutschland verfügt, darf sich über das, was er dort erzählt und mit welcher Hybris er das dann auch noch unter die Zuhörenden streut, schwer wundern. Es ist inhaltlich schwach und teils fragwürdig verkürzt. Besonders schräg scheint, dass er sich in einem Bereich bewegt (Wirtschaftsethik), den er mit nur wenig Recherche hätte entdecken können, er ganz im Gegensatz dazu in seinem Vortrag aber den Eindruck vermittelt, das gäbe es (noch) nicht. Jetzt bräuchte es also den CPO Gabriel mit seiner Ethik-Abteilung im Unternehmen. Kurz: Das ist schon recht abenteuerlich!