Wohlstand ohne Wachstum?
Im Juli 2023 war der bekannte Wirtschaftshistoriker Adam Tooze bei Tilo Jung (Jung & Naiv, Folge 650) zu Gast. Es ist ein sehr sehenswertes Gespräch, das im lockeren Ton geführt die über drei Stunden wie im Flug vergehen lässt. Gesprochen wurde über viele Themen, etwa China und den Wasserstoff-Hype. Aber auch über DeGrowth. Und dazu hat Valentin Sagvosdkin einen sehr lesbaren, kritischen Thread verfasst, in dem er darauf eingeht, dass Tooze den Begriff »DeGrowth« misszuverstehen scheint, sich dagegen ausspricht, aber letztlich Degrowth-Positionen vertritt. Tooze hat dann darauf geantwortet und betont, dass es dort kein Missverständnis gäbe, er ganz bewusst so argumentiert habe. Mein persönlicher Eindruck ist, dass er mit dieser Argumentation nur noch einmal die Kritik von Valentin Sagvosdkin reproduziert. Wirklich überzeugt hat mich das nicht. Aber gut, ich will mich hier nicht aufdrängen. Der Thread von Valentin Sagvosdkin ist öffentlich und kann von allen, die wollen, gelesen und beurteilt werden. Ich möchte das auch nicht weiter austreten, sondern stattdessen gerne zum Anlass für ein paar ergänzende Anmerkungen nehmen.
Ich denke nämlich, dass es sehr wichtig ist, sich vor allem aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ernsthaft (!) mit DeGrowth, PostGrowth, Postwachstum usw. auseinanderzusetzen. Dabei zielt »ernsthaft« auf einen redlichen, problemadäquaten Umgang ab. Denn das, was ich vor allem von ökonomischer Seite her oft erlebe, das ist eher ein verkürztes, verdrehendes, durch rhetorische Manöver (Strohpuppen) flankiertes Aufgreifen, das sichtbar dazu dient, sich nicht lange damit aufzuhalten und dies schnell wieder abzuheften. Es erinnert mich teils an die Auseinandersetzungen mit dem »Bedingungslosen Grundeinkommen«. Aber das wäre ein anderes Thema (und nein, mensch kann sich mit den Modellen ernsthaft auseinandersetzen, Sympathie zeigen und sich trotzdem eine gewisse Skepsis behalten). Also zurück zum Wachstum.
Wohlstand und Wachstum
Was vor allem die ökonomische Debatte über Wachstum überschattet, das ist die Dominanz eines materialistischen Bilds von Wohlstand und der Umstand, dass Wohlstand sehr eng mit Wachstum zusammengedacht wird. Die Vorstellung bzw. das Narrativ von »Wachstum & Wohlstand« ist sehr tief im Denken ›der‹ Ökonomik verankert. Wohlstand ohne Wachstum? Das scheint (heute) undenkbar.
Aus ideengeschichtlicher Sicht gab es diesen Zusammenhang bereits ganz am Anfang der Etablierung ›der‹ Ökonomik als eigenständige Disziplin, also mit der ökonomischen Klassik. Adam Smith (1723-1790) als optimistischer Klassiker war ganz deutlich von der Idee getragen, den »Wohlstand der Nationen« durch wirtschaftliches Wachstum zu heben. Die Pessimisten David Ricardo (1772-1823) und Thomas Robert Malthus (1766-1834) zeigten sich von diesem Optimismus nicht überzeugt, aber letztlich lässt sich auch dort der Zusammenhang »Wohlstand durch Wachstum« dechiffrieren: Es ging faktisch um Wachstumshindernisse (z. B. durch ›selbstverschuldete‹ Armut) und teils wurde auch über das Heben des Wohlstands nachgedacht (z. B. durch wachsende Bedürfnisse der ›landlords‹ bei Malthus).
Später scheint der Zusammenhang »Wohlstand durch Wachstum« hinter der Abstraktheit und der neoklassischen Fixierung auf (Markt-) Gleichgewichte untergegangen zu sein. Wachstum wurde dann offenbar durch die Maximierung und Optimierung von Wohlstand ersetzt. Die Vorstellung von Wohlstand nahm zunehmend abstrakte Formen an, wurde als kardinaler – später als ordinaler – Nutzen verstanden, der unter Bedingungen einer (idealen) auf Wettbewerb basierenden Marktwirtschaft zu maximieren sei. Offenbar war dem Wachstum durch die Tendenz zum Marktgleichgewicht eine Grenze gesetzt. Abgesehen davon basiert Wachstum auf einem Fortschreiten der Zeit, von der aber in der neoklassischen Theorie (zunächst) abgesehen (abstrahiert) wurde. Gleichwohl können Abweichungen vom Gleichgewicht auch als »Wohlstandshindernis« dechiffriert werden, die in einem geringen Nutzen bzw. Gesamtnutzen liegen. Mensch könnte sich also - gemessen am Gesamtnutzen - aus einer ineffizienten Situation in ein effizientes Marktgleichgewicht bewegen, sozusagen dorthin wachsen. Allerdings wirkt diese Argumentation etwas bemüht.
Völlig unabhängig von der eben beschriebenen Entwicklung sollte nicht der Fehler begangen werden, sich das Nachdenken über »Wohlstand« in sauber voneinander abtrennbaren und abgeschlossenen Etappen vorzustellen. Abgeschlossen ist nichts. Neben der sich ins Abstrakte ausdifferenzierenden Vorstellung von »Wohlstand« existieren weiterhin auch andere Vorstellungen, die Wohlstand zum Beispiel in volkswirtschaftlichen Aggregaten dachten. Und dort taucht dann auch das Paradigma »Wohlstand durch Wachstum« wieder auf.
Sehr deutlich sind dieses Paradigma »Wohlstand durch Wachstum« und eine deutlich materialistische Vorstellung von »Wohlstand« (zum Beispiel gemessen am BIP) dann wieder bei Marktfundamentalisten wie Ludwig Erhard (1897-1977) nachzulesen. An mehreren Stellen im »Wohlstand für alle« führte Erhard seine volkswirtschaftlichen Kennzahlen für Wohlstand an und versuchte agitativ und apodiktisch sein Kuchenparadigma (»Wohlstand durch Wachstum«) unters »Volk« zu bringen. Der »Kuchen« (das BIP) müsse nur größer werden, dann hätten alle etwas davon.
Im »Wohlstand für alle« lässt sich sehr deutlich nachlesen, warum vor allem wirtschaftsliberale Ökonom:innen nicht auf das Wachstum verzichten wollen: Ihnen sind direkte Umverteilungsmaßnahmen zuwider und daher bauen sie darauf, Verteilungskonflikte über wachsenden Wohlstand wenn nicht zu lösen, so doch sie zu entschärfen. Sie hoffen, dass mit wirtschaftlichem Wachstum der Wohlstand sprießt und sich Wohlfahrtsdefizite – wie von selbst – auswachsen.
Das dürfte wohl auch heute noch der Grund für die teils sehr deutlich affektive Ablehnung in ›der‹ Ökonomik sein, sich ernsthaft mit #DeGrowth, #Postgrowth, #Postwachstum etc. auseinanderzusetzen. Wohlstand lässt sich nicht ohne Wachstum denken. Verteilungskonflikte können für ›Standard-Ökonom:innen‹ nicht ohne Wachstum befriedet werden. Wer der Mainstream-Ökonomik das Wachstum wegnimmt – beziehungsweise, zur Abwechslung, einmal davon abstrahiert – , nimmt ihr praktisch das einzige Instrument, mit dem dort auf Fragen zu Verteilungskonflikten geantwortet werden kann.
Unter der Haube: Wachstum und Verteilung
Allerdings befinden ›wir‹ uns mit dem Befund nur an der Oberfläche der damit verbundenen Problematik. Denn wer tiefer bohrt, wird auf eine methodisch-normative Problematik stoßen, die sehr alt ist. Gemeint ist die Trennung zwischen positiver und normativer Ökonomik beziehungsweise der Ausschluss moralischer Fragen aus ›der‹ ökonomischen Analyse. Ideengeschichtlich ist dies spätestens seit David Ricardo etabliert. Im ideengeschichtlichen Standardwerk von Pribram heißt es dazu:
»Ricardos Überlegungen drehten sich dagegen nicht um moralische Fragen. Er ignorierte die Probleme, die mit der Expansion oder dem Wachstum einer Wirtschaft und mit Rückschlägen in der ökonomischen Tätigkeit zusammenhingen […]. Die Beseitigung dieser Fragen war der Preis für die Umwandlung der Wirtschaftslehre in eine ›exakte Wissenschaft‹.« (Pribram 1992: 278)
Es war letztlich der Versuch, auf Verteilungsfragen in einer Weise zu antworten, die ohne die Beschäftigung mit ethischen Fragen – die diesen Verteilungsfragen immanent sind – auskommt. Ian Malcolm David Little (1918-2012) hatte dies später in »A Critique of Welfare Economics« sehr deutlich an der modernen Wohlfahrtsökonomik wie folgt kritisiert:
»Welfare economics and ethics cannot, then, be separated. They are inseparable because the welfare terminology is a value terminology. It may be suggested that welfare economics could be purged by the strict use of a technical terminology, which, in ordinary speech, had no value implications. The answer is that it could be, but it would no longer be welfare economics. It would then consist of an uninterpreted system of logical deductions, which would not be about anything at all, let alone welfare. […] Getting rid of value judgements would be throwing the baby away with the bathwater. The subject is one about which nothing interesting can be said without value judgements, for the reason that we take a moral interest in welfare and happiness.« (Little 1950: 81–82; hier die Originalausgabe!)
Was hat das nun aber mit Wachstum zu tun? Der springende Punkt ist, dass ›die‹ moderne Ökonomik vom Selbstbild her als eine ›exakte‹, empirische, positive und damit ›wertfreie‹ Disziplin betrieben wird, in der normative Fragen allenfalls im positivistischen Sinne als beobachtete Phänomene einen Platz haben. Verteilungskonflikte, die ganz zentral ethische Fragen adressieren – Was ist eine ›gerechte‹ oder ›zumutbare‹ Verteilung? Welches Maß an Einkommens- und Vermögensdiskrepanzen ist ›gerecht‹? etc. – , können von solch einer Ökonomik nicht angemessen adressiert werden. Es geht also nicht nur um ein wirtschaftsliberales Narrativ, gemäß dem Verteilungskonflikte durch Wachstum zu befrieden sind (also eine bestimmte ›Ideologie‹), sondern ›die‹ moderne Ökonomik ist von der ganzen Ausrichtung her – von den Annahmen, den Narrativen, der wirtschaftsliberalen Weltanschauung und der Methodik – nur sehr schwer in der Lage, angemessen mit Verteilungskonflikten umzugehen, weil die Beschäftigung mit ethischen Fragen ausgeklammert wurde und die Praxis dazu fehlt.
Fazit
Damit lässt sich der Bogen zurück zur Eingangsproblematik schlagen: Es scheint den im standard-ökonomischen Denken geschulten Menschen schwer zu fallen, angemessen über DeGrowth, Postwachstum usw. nachzudenken, weil a) das Wohlstandsdenken ›traditionell‹ eng mit Wachstum verbunden ist und b) ein Denken etabliert ist, das Verteilungskonflikte über »Wachstum« – quasi als technischer Selbstläufer – befriedet. Es existiert keine Vorstellung von angemessenen Alternativen zur Befriedung von Verteilungskonflikten, weil auch die dafür notwendige normative Expertise und Praxis fehlt, sie aus ›der‹ Ökonomik völlig hinausgedrängt wurde. ›Angemessen‹ deshalb, weil zwar Alternativen zur Kenntnis genommen werden. Schließen stellen DeGrowth, Postwachstum usw. Alternativen dar. Nur erscheinen sie aus der herkömmlichen ökonomischen Perspektive heraus als ›radikal‹, werden nicht ernst genommen und entsprechend aus dem Diskurs ausgegrenzt. Das gilt übrigens auch – das lässt sich in der Debatte immer wieder beobachten – für einen breiten Teil heterodoxer Modellökonomiken.
Das heißt nicht, dass DeGrowth, Postwachstum usw. sakrosankt sind. Aber ihre Funktion könnte aktuell vor allem darin liegen, das apodiktisch festgefügte Zusammendenken von »Wohlstand und Wachstum« aufzubrechen und die dann notwendigen Verteilungsfragen endlich einer angemessenen Analyse, die notwendigerweise auch die Expertise in (wirtschafts-) ethischen Fragen beinhaltet, zuzuführen.