»Plurale Ökonomik« – ein unebenes Feld
Hinweis auf einen Thread & ein paar Gedanken zur Pluralen Ökonomik
Carolina Alves hat in einem lesenswerten Thread auf Twitter interessante Literatur zur heterodoxen Ökonomik zusammengefasst, speziell zur Frage: »Was ist heterodoxe Ökonomik?« Das möchte ich gerne zur Lektüre empfehlen.
Ergänzend dazu möchte ich auf das umfangreiche Working-Paper von Katrin Hirte und mir [PDF] hinweisen, dass wir 2013 im Rahmen unserer Forschung zur Ökonomik und heterodoxen Ökonomik verfassten und das auch heute noch aktuell sein dürfte (letzte Änderung 2018). In dem Papier widmeten wir uns dezidiert der Frage, wie Ökonomik und heterodoxe Ökonomik in den Pluralismus-Diskursen klassifiziert wird und welche Probleme dabei bestehen.
Gleichzeitig möchte ich mir noch eine kritische Anmerkung zu folgendem Punkt aus dem Thread von Carolina Alves erlauben:
»For example, Lawson (2006, 2009) explicitly claims that a non-insistence on mathematical modelling is the essence of heteredox economics« (Carolina Alves, 2023-04-12, Twitter)
Zunächst: Ich schätze den dort angesprochenen Tony Lawson sehr und teile ausdrücklich seine Kritik an der Modellierungskultur, die die moderne Ökonomik dominiert (Deduktivismus-Kritik). Aber es gibt nicht nur gute Gründe, an der obigen Aussage zu zweifeln, sondern damit illustriert sich sehr gut die Ambivalenz in der heterodoxen Ökonomik.
Was sind nun gute Gründe, die Zweifel lassen an der Aussage, dass »a non-insistence on mathematical modelling is the essence of heteredox economics«? Nun, erstens ist festzuhalten, dass die mathematische Modellierungskultur nicht nur charakteristisch für den Mainstream der modernen Ökonomik ist. Nein, diese Modellierungskultur dominiert auch das Feld der heterodoxen Ökonomik. Zu denken wär hierzu an den im deutschsprachigen Raum recht gut vertretenen Post-Keynesianismus, an die Evolutionsökonomik und die Komplexitätsökonomik (inkl. Agenten basierter Modellierungen). Freilich gibt es Unterschiede in der Art und Weise der Modellierungen zur modernen Ökonomik, sonst würden diese Ansätze wohl kaum als »heterodox« gelten. Doch es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass ein nicht unerheblicher Teil des Feldes der heterodoxen Ökonomik eben eine heterodoxe Modellökonomik ist. Selbst wenn die Vertreterinnen und Vertreter von heterodoxen Modellökonomiken vielleicht nicht mit der Vehemenz die mathematische Modellierung verteidigen wie das in der modernen (Mainstream-) Ökonomik der Fall ist, so macht die mathematische Modellierung doch einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitspraxis heterodoxer Modellökonomiken aus. Es ist auch nicht unbedingt davon auszugehen, dass dort die fundamentale Kritik von Tony Lawson wirklich geteilt wird, weil diese nämlich dann auf sie selbst zurückfallen würde.
Zweitens hat Tony Lawson selbst zum Beispiel in »Beyond deductivism« (2018) sehr deutlich und klar seine Deduktivismus-Kritik an die Vertreterinnen und Vertreter des Post-Keynesianismus gerichtet. Das bestätigt meinen letzten Punkt noch einmal, lässt hier aber die Ambivalenz von Lawson selbst noch einmal deutlich werden, wenn er einerseits meinte, das Nicht-Insistieren auf die mathematische Modellierung wäre Charaktermerkmal der heterodoxen Ökonomik, er andererseits seine Deduktivismus-Kritik – die ursprünglich gegen die mathematische Modellierung formuliert war – auch an heterodoxe Modellökonomiken wie den Post-Keynesianismus richtete.1
Das Feld der »Pluralen Ökonomik«/ heterodoxen Ökonomik sollte deshalb in seiner ganzen Heterogenität und Ambivalenz gesehen und verstanden werden. Auch im Feld der heterodoxen Ökonomik gibt es Machtasymmetrien – so, wie heterodoxe Ökonom:innen das gegenüber dem modernen ökonomischen Mainstream kritisieren. Die heterodoxe Ökonomik ist ein Feld mit unterschiedlichen Akteuren, Netzwerken, Interessen und ungleich verteilten Sozialkapitalien (im Sinne von Bourdieu). Deshalb geht es auch fehl, das Feld der heterodoxen Ökonomik archetypisch mit »Pluralität« gleichzusetzen. Schließlich kann die Zustimmung zur Forderung nach mehr Pluralität in der Ökonomik auch auf einem eher instrumentellen Verständnis von »Pluralität« beruhen, das die Forderung nach Pluralität recht schnell am Gartenzaun des eigenen Denkkollektivs enden lässt. Pluralität ja, natürlich, so lange ich davon begünstigt werde oder zumindest keine Nachteile fürchten muss.
Letzteres scheint mir auch ein Grund dafür zu sein, warum die Pluralisierung der Ökonomik teils den Eindruck erweckt, auf der Stelle zu treten: Denn nach wie vor sind ökonomische Ansätze, interdisziplinäre Konzepte, wirtschaftsethische Perspektiven usw., die eher non-formal arbeiten und sich methodisch sehr deutlich von der modernen Ökonomik unterscheiden, in der Pluralen Ökonomik nicht sehr präsent (im Grunde dürfen sie auch dort als marginalisiert gelten).2 Andere Gründe liegen nach wie vor in der auch strukturellen Macht der modernen Ökonomik, mit der Kritik ausgeblendet und andere – alternative – Perspektiven darauf, Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, auf Abstand gehalten werden.
Bildquelle: Abb. 4.2 aus Heise/ Sander/ Thieme (2017): Das Ende der Heterodoxie?, S. 93.
Beschleunigt wird dies durch die demographische Entwicklung, die jene Heterodoxe, die in der Vergangenheit berufen wurden, in den Ruhestand gehen lässt (siehe auch die Studie hier | PDF). Insgesamt sind das also keine rosigen Aussichten für eine Plurale Ökonomik.
Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ich weiß auch nicht, wie sich dieser Konflikt lösen lässt. Gemessen daran, wie lange diese Methoden-Streitigkeiten schon existieren, vermute ich eher, dass er gar nicht lösbar ist. Auf was es dann ankäme, das wäre eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sich in einer »Pluralen Ökonomik« mit den verschiedenen Widersprüchen umgehen lässt. Meine vorläufige Antwort ist, dass eine gewisse »Ambiguitätstoleranz« zu erlernen und zu trainieren ist. Das Feld der Pluralen Ökonomik könnte den Raum bieten für einen anderen Forschungsethos, der es ermöglicht, verschiedene – sich auch widersprechenden – Ansätze, Konzepte usw., ihre erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen, die Grenzen ihrer Anwendbarkeit und Geltungsbreite kennenzulernen und ihre Verwendung zu erwägen. Es ginge damit letztlich darum, sich systematisch, klug (überlegt) in Widersprüchen zu bewegen – und diese Widersprüche auch auszuhalten, statt radebrechen zu versuchen, sie »aufzulösen«. Es ginge dann um eine deliberative Ökonomik.
Siehe dazu auch meine kritische Einschätzung im Oxi-Magazin 2021.